Einbecker Waisenhaus wurde 1713 mit 15 Kindern gegründet

In der vom Dreißigjährigen Krieg zerstörten Baustraße / Teuerung, verarmte Bevölkerung / Kinderarbeit üblich / Misswirtschaft des Waisenvaters

»Ist irgend ein Ort, wo man gegen die armen Mitbrüder nicht blos mitleidig denkt, sondern sie auch in ihrer Noth thätig unterstützt, so ists gewis die Stadt Einbeck, der man dieses Lob beylegen muß. Schon in den ältern Zeiten zeichnete sich diese Stadt durch ihre vielen milden Stiftungen für Arme, ganz besonders aus. – Und eben der Geist, welcher ihre vormaligen Einwohner beseelte, belebt auch noch jetzt einen großen Theil ihrer jetzigen Bewohner.«

Einbeck. Dieses Zitat findet sich in den Annalen der Braunschweig-Lüneburgischen Churlande von 1787. Daraus ist ersichtlich, dass die Bürgerschaft und die Verwaltung schon immer für die ärmsten Bewohner der Stadt Verantwortung übernommen haben.

Am 26. Juli 1712 erließ das »Geh. Rats. Kolleg« eine entsprechende Anordnung zur Einrichtung eines Waisenhauses in Einbeck: »Als bei der von den Gebrüdern Borcholte geschehenen Etablierung der Wand-, Flanell- und Zeugfabrik zu Einbeck in Kgl. Kurfürstlichem Geheimen Rats-Collegio resolviert worden, ein Waisenhaus daselbst anzulegen«. In dieser Anordnung wurde der Einbecker Bürgermeister aufgefordert, ein entsprechendes Haus zu kaufen und auszustatten. Die finanziellen Mittel stellte das Kolleg.

Hintergrund der Idee war die Einbindung der Kinder in den Produktionsprozess. Kinderarbeit war in der Zeit der Industrialisierung nichts Ungewöhnliches, und die damalige Gesellschaft sah darin nichts Verwerfliches. Die Brüder Borcholte hatten ihre Fabrik 1709 in der Bau-straße eröffnet. Das war Pionier-Arbeit, denn die Baustraße war bei einem Mörserangriff im Dreißigjährigen Krieg bis auf ein einziges Haus völlig zerstört worden.Vom neugebauten Gebäude-Komplex auf beiden Straßenseiten wurden die beiden größten Arbeiterhäuser gegenüber der Fabrik für das Waisenhaus ausgewählt. Ab dem 1. Januar 1713 kümmerte sich ein »Waisenvater« anfangs um 15 Kinder. Sie wurden in Lesen, Schreiben und Religion unterrichtet und arbeiteten in der Wollspinnerei. Nach und nach kamen immer mehr Kinder dazu. Kurz vor dem Siebenjährigen Krieg waren 40 Kinder in der Baustraße untergebracht. Für den Betrieb des Waisenhauses zahlte die Einbecker Licentkasse 36 Taler im Monat. Zusätzlich bekam das Haus den Erlös aus der Tabak-Importsteuer aus den Fürstentümern, Calenberg, Göttingen und Grubenhagen. Die Kinder erwirtschafteten mit ihrer Arbeit etwa 100 Taler im Jahr.

Im Lauf der Zeit erwarb das Waisenhaus einige Grundstücke und zinsbringende Kapitalien. 1726 waren es vier Gärten mit insgesamt zwei Morgen Fläche – einer lag in unmittelbarer Nähe, zwei waren auf der Deinerlinde, und ein Garten befand sich zwischen Tiedexer und Hullerser Tor. Später schaffte man Vieh an und baute einen Kuh- und einen Schweinestall.

Im Verlauf des Siebenjährigen Krieges stiegen die Lebenshaltungskosten. 1760 machte man dem Oberkommissar Wiese deshalb den Vorschlag, die Kinder bei Bürgerfamilien zu verpflegen. Wiese lehnte entrüstet ab und verwies unter anderem darauf, dass dabei die Erziehung vernachlässigt würde und es ein nicht wieder gut zu machender Nachteil sei, wenn man die Waisenkinder ohne handwerkliches Können ins Leben entlassen würde. Davon ließ sich die Regierung überzeugen und beließ es dabei.

Im gleichen Jahr bat Waisenhausvater Johann Andreas Korb mit Unterstützung von Oberkommissar Wiese die Regierung darum, die Zuschüsse um zwei Groschen pro Kind und Woche befristet für das nächste halbe Jahr zu erhöhen. Nach längeren Verhandlungen wurde der Zuschuss schließlich gewährt. 1765 wurden für jedes Kind pro Woche 22 Groschen gezahlt.

Mittlerweile waren die Lebensmittelpreise wegen mehrerer schlechter Ernten weiter gestiegen. Gleichzeitig traf eine Hiobsbotschaft im Waisenhaus ein: Die Einnahmen aus der Tabaksteuer wurden ab sofort nur noch zur Hälfte ausgezahlt. Zu allem Überfluss hatte es der Waisenvater auch noch versäumt, die Vorräte wegen der günstigen Preise im Herbst zu kaufen. Deswegen drohte ihm die Regierung damit, die Gelder zu kürzen. Wiese stimmte dem Vorwurf in einer schriftlichen Stellungnahme zu und schlug vor, den wöchentlichen Satz um einen Groschen zu senken. Der Vorschlag wurde, befristet bis September 1767, angenommen.

In diesem Jahr lebten 31 Kinder, zwei Mägde und die siebenköpfige Familie von Waisenvater Korb im Waisenhaus. 1768 wurde das Waisenhaus mit 1.500 Reichstalern feuerversichert. Das war zur damaligen Zeit noch recht ungewöhnlich. Ab Januar 1768, das Waisenhaus hatte 28 Insassen, wurde der Satz auf 20 Groschen gesenkt. Doch die Lebensmittelpreise stiegen weiter so stark an, dass der Wochensatz 1770 (jetzt waren es wieder 31 Kinder) 24 Groschen betrug. Doch auch mit diesem Betrag konnte Korb nicht lange wirtschaften. Er erhielt deshalb im Dezember 1771 eine Nachzahlung von 63 Talern und 27 Groschen. 1772 betrug die Nachzahlung 135 Taler. Zu dieser Zeit herrschte in »aller Welt Theurung«. Die Einbecker Bürger, denen es finanziell besser ging, veranstalteten Sammlungen und Lotterien für verarmte Mitbürger. »Die mehrsten gaben reichlich dazu her. Ja, einige angesehene Häuser, machten es sich ihrer großen Geldbeyträge ohngeachtet, noch zur Pflicht, täglich dreißig, vierzig Arme mit Speise und Trank zu erquicken«.

1773 stiegen die Preise weiter. Man versuchte zu sparen, indem vier Heimplätze nicht besetzt wurden. 1776 brach durch das »leichtsinnige Hantieren eines Waisenhausmädchens« Feuer aus. Beide Viehställe und ein Teil des Holzstalles verbrannten. Weil aber die Beiträge zur Feuerversicherung nicht regelmäßig entrichtet wurden, weigerte sich die Versicherung, zu zahlen. Die Regierung musste einspringen und bewilligte im Februar 1777 die Summe von 198 Talern.

1799 lebten im Waisenhaus drei Mädchen und 20 Jungen, von denen eine vollständige Namensliste mit kurzer Angabe des Grundes ihres Aufenthaltes existiert. Bei dieser Liste fällt auf, dass lediglich bei zwölf Kindern der Vater als »verstorben« angegeben ist. Die Eltern der anderen waren entweder verarmt oder davongelaufen. Die Schere zwischen arm und reich ging in diesen Nachkriegsjahrzehnten weit auseinander.

Die finanzielle Not in der ärmeren Bevölkerung war damals so groß, dass man seine Kinder weggeben musste, damit sie nicht verhungerten – oder sie wurden sogar schlichtweg alleingelassen. Der Einbecker Rat reagierte auf die steigende Armut, indem einmal wöchentlich für die 135 registrierten armen Bürger gesammelt wurde. »Die Beyträge fielen sehr reichlich aus. Manches Haus gab in den ersten Sammlungen, um der Noth zuerst Ziel zu setzen, wöchentlich drey, vier bis fünf Thaler dazu her«.wk