Geschichte von unten – ein schwieriges Unterfangen

Historikerin Dr. Christine Wittrock zu Gast beim Einbecker Geschichtsverein

Mit »einem lebendigen Einblick in das Resultat von mehr als vier Jahren Forschungsarbeit« begann jetzt die neue Vor-tragsreihe des Einbecker Geschichtsvereins. Thema war das Buch von Dr. Christine Wittrock »Idylle und Abgründe, Die Geschichte der Stadt Einbeck mit dem Blick von unten 1900 bis 1950«.

Einbeck. In der Teichenwegschule konnte die Vorsitzende Dr. Elke Heege dazu einen vollbesetzten Saal begrüßen. Das Buch (Verlag Pahl-Rugenstein, ISBN 978-3-89144-455-9), erscheint inzwischen schon in der zweiten Auflage. Dr. Wittrock berichtete zunächst von ihren Motiven, sich fernab herkömmlicher Heimatgeschichte mit der Historie zu beschäftigen und von der »schweren Geburt« einen Verlag und »Fördertöpfe« für Druckkostenzuschüsse zu finden: Trotz der Unterstützung Dr. Heeges habe es eine »»endenz lautloser Zensur« gegeben – »historische Forschung kostet bei weitem mehr als sie einbringt«. Positiv sei nur, dass der Zugang zu Archiven inzwischen liberaler sei, sie dafür nicht mehr Prozesse anstrengen oder selber klagen müsse.

In 90 Minuten stellte sie dann in einer gekonnten Mischung aus Lesung und Erzählung, begleitet von Fotos zu einzelnen Personen sowie lokalen Werbe-Annoncen, die auch einiges zum politischen Denken aussagten, elf Abschnitte aus ihrem Buch vor. Sie begann mit den widrigen Lebensbedingungen der Saisonarbeiter, den »Schwalben«, die um 1900 regelmäßig für einige Monate aus dem Osten kamen. Dazu gehörte auch ihr Großvater. Mit einer »Stimmung zwischen Angst und Erwartung« beschrieb sie das politische Klima vor Ort zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Ebenso detailliert erläuterte sie die unterschiedlichen Gruppen nach dem Krieg, deren Interessen und die jeweiligen Zusammenhänge: Republikaner, Kaisertreue, Kirche, Presse, Kommunalpolitiker, Linke, Rechte, Kommunisten und »rote Dörfer«. Als 1924 im Stukenbrokpark, kurz vor einem Platzkonzert, eine Bombe explodierte, wurden zwei Kommunisten verdächtigt – einer von beiden floh daraufhin in die Sowjetunion.

Faktenreich und genau sind auch ihre Darstellungen zu den Anfängen des Nationalsozialismus in der Region, zu frühen Parteimitgliedern wie dem Pastor Wilhelm Beye aus Wenzen und  dem »König von Borntal«, einer schillernden Figur sowie zu Standhaften, die nicht der Partei beitraten, wie Bürgermeister Hans Oehlmann, dem es gelang, mit Unterstützung des Ratswachtmeisters zu fliehen. Wahlergebnisse, Straßenumbenennungen, die lokale Politik vor dem Hintergrund der »großen« Weltpolitik: So widmete sich Dr. Wittrock auch den Geschehnissen, die 1938 zum Brand der Synagoge führten und den darauffolgenden Verhaftungen von Einbeckern jüdischen Glaubens. Während des Krieges kam es auch zur Enteignung und Einebnung der beiden jüdischen Friedhöfe. Selbst Grabsteine wurden noch verkauft.

Mit den Verhaltensweisen zweier Funktionäre beschloss Dr. Wittrock ihren Vortrag: Zum Kriegsende, am 4. April 1945, rief Kreisleiter Brasche noch zum Durchhalten auf, verließ die Stadt jedoch heimlich am 8. April. Ein anderer, SA-Führer Ziegenfuß, wollte noch im Harz weitere Einheiten unterstützen, die es längst nicht mehr gab. Die außerordentliche Leistung der Historikerin liegt in der umfangreichen Recherche und der Darstellung der Zusammenhänge, die in der Zeit selbst sicher nicht allen Agierenden bekannt waren. 

Dr. Wittrock habe verstanden, lebendig zu zeigen, wie damals gedacht worden sei, dankte Dr. Heege nach dem kräftigen Applaus der Zuhörer für die tiefen Einblicke. Ergänzende Kommentare und Erinnerungen aus den Reihen des interessiert lauschenden Publikums folgten und gaben, neben dem Gehörten, Stoff für weitere Gespräche. des