Heinz Rudolf Kunze, Jan Drees und »Manteuffel«

Großartige Lesung mit Musik im Garten des Einbecker Literaturhauses

Einbeck. Es beginnt ganz in Weiß: Manteuffel liegt verletzt im Krankenhaus, die Erinnerung ist getrübt. Ein Gruber spielt eine Rolle, eine Frau namens Minze ebenfalls. Der erste, den er erkennt, ist John Lennon, möglicherweise der Arzt, der neben sein Bett tritt und der aus seinem Musikerleben plaudert. Die Friedenshymne »Imagine« sei ihm peinlich, und er könne heute noch über den Erfolg wiehern. Szenen zwischen Wachen und Phantasie, zwischen Jugenderinnerungen, politischen Standpunkten, Familiengeschichten und Alltagsbegegnungen hat Heinz Rudolf Kunze im Roman »Manteuffels Murmeln« festgehalten. Er war jetzt zu Gast bei Dr. Olaf Städtler und Gudrun Buschold im Einbecker Literaturhaus. Unter freiem Himmel trug er im mit Kerzen und Feuerschalen erleuchteten Garten und zwischen den großen, angestrahlten Bäumen aus seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch vor.

Um wackelpuddingweiches Regieren geht es da, um alternde Gedanken, um Gelenk- und Bettpfannen und um Jugendliche, die bei einer Wahl vor allem wissen wollen, wo sie das Kreuz für Helene Fischer machen können. »Internet« unterscheide sich nur in einem Buchstaben von »Internat«, stellt Kunze feinsinnig fest, und 5.000 Freunden auf Facebook stehe vielleicht kein einziger ehrlicher Freund gegenüber. Manteuffel grübelt im Krankenbett über Gott und die Welt, seine Gedanken mäandern durch sein Leben. Er sinniert über Frauen, die früher Prinzessinnen werden wollten und heute Hexen in Ausbildung mit dem Zusatz »fliegen klappt noch nicht«, alleinerziehende Heldinnen, die die Männer zu »Männlein« der Schöpfung machten. Manteuffel denkt daran, wie lustvoll es ist, sich den Rücken zu schubbern – und wie lustfeindlich häufiges Waschen demnach sein muss. Er erinnert sich an Hitler, den er erst 20 Jahre nach dessen Tod kennengelernt hat – über den Vater und dessen Erzählungen. Im Gespräch mit dem toten Vater spendet er Trost: Das wäre nicht mehr seine Welt mit Facebook und Frauenparkplätzen. Immerhin: Der Papa lässt Grüße ausrichten, »und ihr sollt schön klatschen.«

Irgendwann erinnert sich der Verletzte wieder an den Vorfall, der ihn ins Krankenbett gebracht hat. Gruber war daran beteiligt, ein knickeriger Beamter, peinlich gekleidet wie sein Vater. Manteuffel nutzt das Krankenlager, um über Kinder nachzudenken, von denen immer mehr eliteallergische Andersbegabte sind, über Menschenrechte für alles, was lebt, über Rechte für unbelebte Materie. Von Worten ist man umzingelt, das spürt der Politiker, der über die fortlaufende »Fick mich«-Äußerung stolpert, öffentlich und privat. Kunze beziehungsweise sein alter ego erzählen Zyklopenwitze, singen ein Loblied auf Osnabrück, obwohl über die Stadt Christian Wulffs und des Medium-Terzetts eigentlich nichts zu sagen wäre. Das Publikum lernte die neuen Nachbarn kennen, bei denen kein Hund das Bein an der Hecke hebt, kein Spatz, keine Amsel, keine Elster im Garten sitzt – und wenn sie denn klingeln, duckt man sich schnell weg. Manteuffel traut sich nicht, murmelnd durch den Supermarkt zu streifen, um seine Frau zu suchen, die er verloren und vergessen hat. Er weiß nicht, ob es früher einfach besser war und heute kompliziert besser ist. Er zeigt Unterschiede und Gemeinsamkeiten von einem alten Mann und einem Karpfen – man vertut sich ja so leicht, und er erklärt, warum es im »Flipper«-Lied mit »iiihn« und »Delfiiihn« den schändlichsten Reim der Weltgeschichte gibt, unfassbar schlecht, ohne dass das bisher jemandem aufgefallen wäre. Eine Geschichte erzählt er von einem Mann, der stets beim selben Kellner isst und verhungert, als er geht, und er zeigt in einer politischen Lehrstunde, was wertkonservativ ist, wie privilegierte Bürgerlichkeit aussieht – und wo die rote Sonne nie aufgehen möge. Dann wird die Erinnerung mächtiger: Manteuffel sieht sich und Gruber am Küchentisch sitzen, zwei Kugeln kommen ins Spiel, zwei Schwerverletzte sind das Ergebnis.

Kunze erstaunte, verdutzte und begeisterte mit Wortkunst, mit interessanten Schöpfungen und inhaltlichen Wendungen und mit Humor, der sich eher anschleicht statt zu knallen. Aus detailreich erzählten Versatzstücken eines vielschichtigen Lebens hat er einen Roman konzipiert, und nach der eineinhalbstündigen Lesung war Manteuffel den Zuhörern sehr vertraut. Mit dem Musiker Jan Drees hatte Heinz Rudolf Kunze einen bemerkenswerten musikalischen Begleiter an seiner Seite, »den unglaublichen Ein-Mann-Pink-Floyd«. In stimmigen Improvisationen gab er einigen Texten mit einem musikalischen Teppich eine weitere Dimension, mit anderen Stücken setzte er die Zäsur zum Nachdenken und Weiterträumen, zum Lachen und Durchatmen beim schnellen Wechsel der Inhalte.

Zwischendurch gab es schon viel Beifall und erst Recht, als zum Abschluss noch ein bisschen Musik gemacht wurde; zu hören waren einige Kunze-Stücke mit pointierten Texten, begleitet von zwei Gitarren und umgesetzt in Ohrwurm-Qualität. Schließlich schrieb Heinz Rudolf Kunze eifrig Widmungen in »Manteuffel«, aber auch in andere Werke, beispielsweise die Kinderbücher über »Quentin Qualle«. »Ich hoffe, es hat Ihnen gefallen – und vergessen Sie unser kleines Krankenhaus nicht«, verabschiedete Dr. Olaf Städtler die entzückten Gäste.ek