Schnell und klar – das sind die besten Entscheidungen

Weltklasse-Schiedsrichter Urs Meier beim »Einbecker Forum« der Sparkasse zu »Entscheidungen unter Druck«

»Pfeifen kann jeder. Ein guter Schiedsrichter muss ein Spiel leiten.« Über den Umgang mit Entscheidungen unter Druck hat Welt­klasse-Schiedsrichter Urs Meier jetzt auf Einladung der Sparkasse Einbeck beim »Einbecker Forum« berichtet.

Einbeck. Der Schweizer Urs Meier war ab 1977 als Fußball-Schiedsrichter im Einsatz. 1991 leitete er sein erstes Spiel in der Nationalliga A, seit 1994 war er FIFA-Schiedsrichter. Er pfiff bei der Fußball-WM 1998 das Vorrundenspiel zwischen USA und Iran sowie das Achtelfinale zwischen Dänemark und Nigeria. Bei der WM 2002 leitete er das Halbfinale zwischen Südkorea und Deutschland. 2002 pfiff er  zudem das Finale der Champions League. Schweizer »Schiedsrichter des Jahres«war er von 1995 bis 2000 sechsmal in Folge, außerdem 2004. Altersbedingt trat er nach 833 Einsätzen im selben Jahr ab.

Der Vorstandsvorsitzende der Sparkasse Einbeck, Stefan Beumer, der sich als Dortmund-Fan zu erkennen gab, stellte Urs Meier vor. Nicht zuletzt seit seiner Kommentatorentätigkeit im ZDF anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006 sei er außerordentlich populär. Wie man Entscheidungen unter Druck trifft und wie sich Verfahren aus der Fußball-Praxis für den Alltag nutzen lassen, dazu werde der Referent berichten. »Und zu Fußball kann ja jeder etwas sagen – ich freue mich anschließend auf eine gute Diskussion.«

Applaus für einen Schiedsrichter sei nicht selbstverständlich, freute sich Urs Meier über die Begrüßung in der Kundenhalle der Sparkasse. Im Vergleich mit 1966 führte er aus, dass Fußball heute schneller gespielt werde. 2006, das »Sommermärchen«, das steht für ihn fest, war für ihn »die schönste Fußballweltmeisterschaft ever«. Warum??Die Spiele seien es nicht gewesen, sondern die Fans. »Menschen machen den Anlass.« Entscheidungen unter Druck zu treffen, zwischen den Fronten, das müssten Schiedsrichter unter Beweis stellen. Etwa 250 bis 300 Entscheidungen pro Spiel seien es, und dabei sei Fairness notwendig. »Schade ich jemandem?«, wenn man diese Frage mit ja beantworte, dann sei das Handeln nicht fair. Man müsse »vom anderen her« denken, denn Fairness sei wichtig für langfristigen Erfolg. Ein Beispiel dafür, so sein Lob, sei die Sparkasse Einbeck, die seit 1830 bestehe: »Darauf dürft ihr stolz sein.«

Per Video nahm er die Zuschauer mit ins Viertelfinale der Fußball-Europameisterschaft 2004, zum Spiel zwischen England und Portugal. Hier annullierte Meier in der 89. Minute ein Tor eines Engländers, da ein Teamkollege den portugiesischen Torhüter gefoult hatte. England verlor das Spiel im Elfmeterschießen und schied aus. »Ihr seid Schiedsrichter, Puls 160, schon zwölf Kilometer gerannt – trefft eine Entscheidung«, forderte er. Eine Sekunde zu zögern, bedeute Unsicherheit, drei Sekunden seien eine mittlere Katastrophe:?»Ein guter Schiedsrichter pfeift schneller als das Publikum.« Mit seiner Entscheidung sei er zum Sündenbock geworden, erinnerte er sich. Rund 16.000 Schmäh-Mails habe er erhalten, wütende Fans hätten sein Haus in Würenlos in der Schweiz belagert, seine Ex-Frau befragt, eine Medienkampagne angezettelt. Schließlich habe die Gemeindepräsidentin Polizeischutz gewährt. Wenn eine Entscheidung gefallen sei, müssten viele weitere folgen – ebenfalls schnell, um den Überraschungsmoment zu nutzen. Entscheidungen zu treffen, bedeute immer, ein Risiko einzugehen. Es gelte aber immer, dass der Schiedsrichter nur das pfeift, was er sieht.

Führungskräfte müssten Entscheidungen treffen, klare Aussagen treffen, auch im Team: »Es gibt keine 50-prozentigen Tore oder 70-prozentigen Elfmeter.« Ein Schiedsrichter müsse ein Spiel leiten, nicht nur pfeifen, und wer führe, brauche entsprechende Qualitäten. Menschen machten Fehler, und das dürften sie auch. Wer Entscheidungen treffe, müsse etwas aushalten können und Bereitschaft zeigen, auf den Gipfel zu wollen, auf den Mount Everest.

Wer es unter weltweit über 750.000 Schiedsrichtern zur Weltmeisterschaft geschafft habe, gehöre zu denen auf dem Hillary Step, unmittelbar vor dem Gipfel. »Wer pfeift, kann spielentscheidend sein – das gleiche gilt für den Mitarbeiter, der zum Kunden geht.« Führungskräfte müssten echt und merkwürdig sein – würdig, dass man sie sich merke. Sie müssten spüren, wenn Mitarbeiter Motivation brauchten, und entsprechend handeln. Schließlich erläuterte Meier die mentale Kraft der Visionen am Beispiel Jürgen Klopp. Mit Begeisterung, Motivation und Fairplay sei er 2011 und 2012 mit Borussia Dortmund Deutscher Meister geworden, mit einem Team. Ein Team sei auch die deutsche Nationalmannschaft 2014 in Brasilien gewesen. »Damit gewinnt man Meisterschaften«, so Meiers Überzeugung.

Für eine Entscheidung benötige man Durchsetzungsvermögen und Klarheit im Ausdruck, je schneller, desto klarer. Es sei gut, wenn man berechenbar und zuverlässig sei. »Es gibt nichts Schlimmeres als unberechenbare Vorgesetzte.« Wer beziehungsfähig sei, werde Menschen schützen und zeigen, dass man sie gern habe. Auf dem Gipfel angekommen, dem Mount Everest, sollte man sich vorsehen vor dem Absturz. Selbstbewusstsein sei gut, aber häufig seien Überheblichkeit und Arroganz nur einen Schritt entfernt. Was Visionen bewirken könnten, führte Meier an seiner eigenen Karriere aus: Als Siebenjähriger habe er sich gewünscht, in einem großen Stadion einzulaufen. 1977 wurde er Schiedsrichter, und 1998 war er bei der WM in Lyon dabei. Visionen ohne Taten seien Träume, Visionen und Taten könnten die Welt verändern. Glück und Pech liegen, nicht nur im Fußball, dicht beieinander –  Urs Meier appellierte an die Zuschauer, auch die kleinen Momente zu genießen: Man warte immer auf die großen Augenblicke, aber die kleinen seien auch wichtig.

Schiedsrichter zu werden, habe er nie bereut, versicherte er, das sei die beste Lebensschule für Entscheidungen und Verantwortung: »Schenkt euern Kindern eine gelbe und eine rote Karte«, ermunterte er das Publikum lachend.

Kritisch steht er der Vergabe der Fußballweltmeisterschaft 2022 nach Katar gegenüber. »Das ist nicht gut, aber es war mir schon vorher klar«, sagte er. Ihm wäre ein Austragungsort lieber gewesen, an dem Fußball einen höheren Stellenwert habe.ek