Sehen und Wahrnehmung formen das Bild der Umwelt

Göttinger Wissenschaftler Professor Dr. Stefan Treue spricht beim Lions-Club Einbeck über visuelle Aufmerksamkeit

Der Vortragsabend über Hirnforschung, visuelle Aufmerksamkeit und Wahrnehmung stieß auf große Resonanz, der Victoria-Saal im PS.SPEICHER war dicht an dicht besetzt, und auch zahlreiche Schüler nutzten die Gelegenheit, den Wissenschaftler zu hören.

Einbeck. Hinter dem Sehen verbirgt sich mehr, als ins Auge fällt: Über visuelle Aufmerksamkeit als Architektin der Wahrnehmung hat Professor Dr. Stefan Treue auf Einladung des Lions-Clubs Einbeck referiert. Riesiger Andrang herrschte dazu im Victoria- Saal des PS.SPEICHERs – nicht nur viele Club-Mitglieder, sondern auch interessierte Bürger und zahlreiche Schüler waren gekommen, um den Vortrag des Direktors des Deutschen Primatenzentrums Göttingen zu hören.

Der Professor für Kognitive Neurowissenschaften und Biopsychologie der Universität Göttingen hat unter dem Motto »To see oder not to see« anhand zahlreicher Beispiele erläutert, dass Sehen und Wahrnehmung unterschiedliche Dinge sind. Lions-Präsident Dr. Rainer Schürhoff freute sich über den starken Zuspruch – der Referent, Leibniz- Preisträger von 2009, sei aber auch ein herausragender Fachmann. Biologie sei ein faszinierendes Thema, er freue sich, Schüler dafür begeistern zu können, so der Göttinger Wissenschaftler.

Die Aufgabe des Nervensystems sei es, Informationen aus der Umwelt aufzunehmen, aus denen Handlungsoptionen gewonnen werden können. Zwischen Umwelt und Nervensystem liegen Sensoren, mit denen Informationen erzeugt werden als inneres Abbild der Umwelt. Das visuelle System solle dem Organismus ein möglichst korrektes Bild der Umwelt liefern – und je leistungsfähiger das System sei, desto besser. Der Mensch sei in der Lage, sehr detailliert wahrzunehmen, in einer hohen Auflösung. Während eine moderne Digitalkamera rund zehn Millionen Bildelemente abbilde, schaffe jedes menschliche Auge etwa 120 Millionen Pixel, ein ganz hochauflösendes Bild also. Auch mit wenig Licht könne der Mensch sehen, und bei Schneefeldern im Sonnenlicht funktionierten die Augen ebenfalls – und diese Szene ist etwa zehn Millionen mal heller. Der Mensch, so der Wissenschaftler, sei also zu hochentwickelter Verarbeitung von visuellen Eindrücken in der Lage, und das sei überlebenswichtig.

Die lange Evolution habe ihm ein Spitzensystem verschafft. »Die Wahrnehmung liefert aber kein korrektes Bild«, stellte er fest. Ein Beispiel seien visuelle Illusionen. Die Wahrnehmung korrigiere Unterschiede, was nicht allein eine Leistung der Netzhaut sei, sondern der Verarbeitung durch das Gehirn. Hier ist der Hinterhautlappen zuständig.

Ein Viertel der Großhirnrinde ist allein für das Sehen zuständig - ein Hinweis, dass diese Aufgabe sowohl wichtig als auch schwierig ist. Die Verarbeitung erfolgt über Nervenzellen. Aktivitäten können elektrophysiologisch erfasst werden. »Man kann Nervenzellen bei der Arbeit zuhören«, erläuterte Professor Dr. Treue ein entsprechendes Hörbeispiel. Jede Zelle sei allerdings wie ein Periskop für einen kleinen Ausschnitt zuständig beziehungsweise spezialisiert. In der Großhirnrinde werden die Eindrücke in unterschiedlichen Bahnen verarbeitet – die Aktivierung der Nervenzellen erfolgt, wenn die jeweiligen Spezialgebiete angesprochen werden.

Aufgenommen und verarbeitet werden nur Teile der Informationen. »Wir haben das Gefühl der vollständigen Wahrnehmung«, erläuterte der Referent. Tatsächlich seien Korrektheit und Vollständigkeit in Frage zu stellen. »Wenn uns etwas nicht interessiert, bemerken wir das nicht – es hat keine Bedeutung für uns.« So vermeide das Gehirn Überforderung. Die Konzentration der Aufmerksamkeit auf eine Sache macht sich beispielsweise die Werbung zunutze. Das visuelle System liefere überlebensrelevante Daten, es habe kein Interesse daran, Kapazitäten zu verschwenden. Was ist entscheidend für den Alltag – daran wird die Relevanz gemessen. Zugleich wird der Reiz stärker, wenn man auf ihn achtet. Die rezeptiven Felder der Zelle verformen sich durch Aufmerksamkeit.

Was man beachtet, wird größer als es tatsächlich ist. Die meisten Nachrichten, so Professor Treues Schlussfolgerung, würden gar nicht empfangen, und nur ein Bruchteil der Signale, die verarbeitet werden könnten, werde tatsächlich genutzt. Da dieses hochentwickelte System der Informationsaufnahme und -verarbeitung viel Energie benötigt, gibt es ein Filter- und Bewertungssystem: die Aufmerksamkeit.

Wichtige Reize werden dadurch überbetont. Die Erforschung dieser komplexen kognitivem Leistungen stehe noch am Anfang, führte Professor Treue aus. Und die Untersuchungsansätze seien komplex: Biologie spiele ebenso eine Rolle wie Psychologie, Technik oder sogar Philosophie. Gemeinsam werde an der Grundlagenforschung gearbeitet, die sich beispielsweise für Therapien nutzen lassen. An den spannenden Vortrag schloss sich eine engagierte Diskussion an. Dabei ging es unter anderem um eine mögliche Leistungssteigerung: Durch vielfältige Stimulation sei ein Trainingseffekt möglich, um Informationen effizienter zu verarbeiten.

Üben, üben, üben – das sei ein Weg, das System zu verbessern. Multitasking, machte der Referent deutlich, sei eine Illusion: Es bringe nichts, sich auf mehr als einen Kanal gleichzeitig zu konzentrieren, denn bei jedem Wechsel gingen Aufmerksamkeit und Sinneseindrücke verloren. Der Eintritt war frei, die Besucher waren um Spenden gebeten worden für den Präventionsverein FIPS und das Projekt »Mama lernt deutsch – Papa auch«, und die Sammel-Hüte wurden bereitwillig gefüllt.ek