»Wie wir wurden, was wir sind«

Wolfgang Borchardt berichtete bei den Landfrauen informativ über die 1950er

Einbeck. Unter dem Titel »Wie wir wurden, was wir sind« blickte er auf die Jahre des Aufbaus, des Wirtschaftswunders und der ersten Reisen ins Ausland zurück. Borchardt garnierte die Zeitreise mit bekannten.

Die Ländliche Heimvolkshochschule Mariaspring bei Bovenden ist eine staatlich anerkannte Bildungsstätte, in der Borchardt und seine Kollegen Seminare und Fortbildungen anbieten. Zu den Teilnehmern gehören internationale Lehrer, denen Deutschland und seine Geschichte näher gebracht werden. Beliebt ist dabei die Miteinbeziehung von Musik aus den jeweiligen Epochen.

Borchardt erklärte den Landfrauen, dass die Bundesrepublik Deutschland im Mai 1949 gegründet wurde – die DDR ein halbes Jahr später. Beide Staaten hatten noch nicht sofort die volle Souveränität. Internationale Verträge brauchten die Zustimmung der Siegermächte. Erst nach dem Deutschland-Vertrag 1952 und den Pariser Verträger 1952 konnten die deutschen Staaten über die eigenen Geschicke immer mehr selber entscheiden. Der Preis dafür: Die Bundesrepublik wurde Mitglied der NATO. Gegen die Entscheidung war nicht nur Frankreich, sondern rund 80 Prozent der deutschen Bevölkerung. Entgegen des Potsdamer Abkommens samt Militärverbot wollten die USA, dass die Bundesrepublik wieder ein souveräner, anerkannter Staat werde – samt Militär. Trotz vieler Friedensdemonstrationen und Widerstände wurde im Oktober 1950 das »Amt Blank«, Vorgänger der Bundeswehr, gegründet.

Zwar ging es den Menschen noch nicht gut, aber schon besser als in der Nachkriegszeit. Das besangen unter anderem Peter Alexander, Caterina Valente und Silvio Francesco mit dem Lied »Es geht besser, besser, besser«. Daran heißt es: »Es geht weiter, weiter, weiter, immer weiter, weiter, weiter. Wir schaffen wahre Wunder, und die kann jeder seh'n.« Dank Marshall-Plan, Währungsreform und Aufbaumentalität traf die Aussage zu, die Wirtschaft erholte sich schnell. Anfang der 1950er Jahre lag das wirtschaftliche Wachstum jährlich bei rund zehn Prozent.Nachdem die Grundbedürfnisse gedeckt waren, stieg kontinuierlich der Lebensstandard. Es kam zur Konsum- und »Fresswelle«, die Menschen wurden immer korpulenter und wollten »viel Kalorien mit Sahne«. Hans-Arno Simon sang: »Ach, sag doch nicht immer wieder Dicker zu mir.«

Nachdem die Bäuche gefüllt waren, wurde vom Leben und einem »Häuschen mit Garten« (Willy Hagara) geträumt, denn »was brauche ich mehr, um zufrieden zu sein.« Vor allem die Passage »ein Frauchen, ein liebes, hole ich mir ins Haus« sorge in heutiger Zeit für viel Gelächter, schmunzelte Borchardt, denn es höre sich so an, als ob »Mann« sich eine Frau wie ein Möbelstück ins Eigenheim hole.

Nach Vertreibung, Flucht und Krieg wollten viele eine kleine heile eigene Welt und hatten Sehnsucht nach Ruhe und Frieden. Zusätzlich wurde viel gearbeitet, bis auf sonntags bis zu zwölf Stunden täglich. War das Eigenheim eingerichtet, stieg der Wunsch nach Mobilität. Motorroller, Vespas, Isettas, Goggos und Käfer fanden große Verbreitung.

Ziele der ersten längeren Touren waren nach der Umgebung die See sowie Harz, Schwarzwald und Rhein. Es folgte als erstes Nachbarland Österreich, kam man mit den 34 PS des Käfers über die Berge. Dann wuchs die Sehnsucht nach dem Traumland der Deutschen: Italien. Sonne, Mittelmeer, südliche Nächte, Getränke und Essen zogen die Deutschen an. Verstärkt wurde dies mit dem Lied »Capri-Fischer«, gesungen von Rudi Schuricke.Obwohl es ständig bergauf ging, überwogen in den Familien die traditionellen, konservativen Werte. Fragen, wer wen zuerst vorstellt oder ob Mann oder Frau den Vortritt beim Treppenaufstieg haben, beschäftigte die Menschen. Viele schauten im Knigge oder im »Einmaleins des guten Tons« nach, um ja nichts verkehrt zu machen. Die Jugend begehrte mit Trenchcoats, Kaugummi, Cola oder »amerikanischer« Musik auf. Elvis Presley begeisterte viele Heranwachsende.

Das Hazy Osterwald Sextett rief in dem Lied »Konjunktur Cha Cha« ironisch auf: »Geh' n Siemit der Konjunktur, geh' n Sie mit, geh' n Sie mit. Geh' n Sie mit auf diese Tour, geh' n Sie mit, geh' n Sie mit.« Statussymbole wurden immer wichtiger. Viele verglichen Fernseher, Autos oder Häusern mit denen der Nachbarn und wollten immer besser dastehen.

Flüchtlinge und Vertriebene hatten sich ebenfalls ein »neues« Leben aufgebaut, merkten aber zehn Jahre nach Kriegsende, dass sie wohl nie mehr in ihre »alte« Heimat zurückkehren können. Beliebt war daher Freddy Quinns Lied »Heimweh«. Passagen wie »dort, wo die Blumen blühn, dort, wo die Täler grün, dort war ich einmal zu Hause. Wo ich die Liebste fand, da liegt mein Heimatland« oder »Hört mich an ihr goldnen Sterne. Grüßt die Lieben in der Ferne. Mit Freud und Leid verrinnt die Zeit« berührten viele Menschen.

Das Vorbild, dem man häufig nachahmte, war Amerika, doch half der WM-Sieg 1954 in Bern dem Selbstverständnis, »wieder jemand zu sein«. Die Anerkennung durch das Ausland steigerte sich kontinuierlich. Alle hofften, wie es einige Professoren prognostizierten, dass es immer aufwärts geht, doch folgten in den 1960er wirtschaftliche Krisen. Über die könne er ja beim nächsten Mal sprechen, scherzte Borchardt.Gisela Niehoff, Vorsitzende des Landfrauenvereins Einbeck, lobte den Vortrag. Ihr imponierte, wie Wolfgang Borchardt die wechselvolle deutsche Geschichte immer wieder gekonnt vermittele und dabei schöne alte Schlager einbinde. Als Dank überreichte sie ihm ein Präsent und hoffte, ihn bald wieder begrüßen zu können.mru