Vieles war möglich durch gegenseitige Solidarität

Martin Wehner hat Parteigeschichte der SPD seit dem Kriegsende 1945 aufgearbeitet | Zugleich Stadtgeschichte

Die Einbecker SPD-Geschichte seit 1945 hat der frühere Bürgermeister Martin Wehner (Vierter von links) aufgearbeitet und anlässlich des Starts zum 150-jährigen Jubiläum vorgestellt. Er stellte sie bei der Mitgliederversammlung mit den Abteilungsvorsitzenden Kernstadt, Peter Traupe und Rita Moos, dem Ortsvereinsvorsitzenden Marcus Seidel, Eberhard Koch, Verfasser der Chronik für die Jahre 1869 bis 1945, Landrätin Astrid Klinkert-Kittel, dem Unterbezirksvorsitzenden und Landtagsabgeordneter Uwe Schwarz, Hans-Dieter Loycke, zuständig für die Ausstellung im Hintergrund, und dem Fraktionsvorsitzenden im Rat, Rolf Hojnatzki (von links), vor.

150 Jahre SPD in Einbeck, das ist Partei- und zugleich Stadtgeschichte. Anlässlich des Jubiläumsjahres hat der frühere Einbecker Bürgermeister Martin Wehner die Chronik erweitert. 1976 hatte Eberhard Koch eine umfassende Arbeit vorgelegt, die die Nachkriegsjahre nur kurz streift. Die sind jetzt intensiv bearbeitet worden. »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ ... Zur Geschichte der Sozialdemokratie in Einbeck« heißt die Broschüre, die die Partei dazu herausgegeben und die Martin Wehner vorgestellt hat.

Einbeck. Seit etwa 1960 hat er die Politik in Einbeck selbst miterlebt und teilweise mitgestaltet. Bereits 1945 waren einige Personen aus der Weimarer Republik bereit, wieder Verantwortung zu übernehmen. Eine Öffnung der Partei in die »bürgerliche« Gesellschaft war zunächst nicht vorgesehen; sie kam erst mit dem Godesberger Programm ab 1956: Rechtsanwälte, Schulleiter, Lehrer, Architekt – nach und nach wurde eine gute Mischung der Gesellschaft in Partei und Fraktion erreicht, »eben Volkspartei«, so Wehner. Er selbst trat 1963 in die SPD ein und sei dabei so etwas wie ein Exot gewesen. Die Zeiten des innerparteilichen Umbruchs waren nicht immer friedlich. Er habe seine Aufgabe darin gesehen, aufgerissene Gräben zuzuschütten, und teilweise sei ihm das gelungen.

Wehner ging auf die Organisation und Struktur der Partei ein, die sich mehrmals verändert habe, die aber in der Öffentlichkeit wenig wahrgenommen wurde. Umfassend hat er die sechs Vorsitzenden und die Mitglieder der Fraktionen sowie die Mandatsträger aufgezählt. »Einbeck war stets ein politisch umkämpftes Pflaster, keine SPD-Hochburg«, stellte er fest. Denkbar knappe Mehrheiten habe es immer wieder gegeben. Den größten Erfolg der Nachkriegszeit hatte die SPD 1972 mit 19 Sitzen – die CDU lag bei 16. Allerdings konnte der Erfolg der »Willy«-Wahl nach der Gebietsreform 1974 nicht wiederholt werden, und Dr. Herbert Voges ging eine Koalition mit der FDP ein. Das schlimmste Nachkriegsjahr war 1981: Im Juni trat der damalige stellvertretende Bürgermeister Harald von Riesen zur FDP über, und im Herbst verlor die SPD bei der Kommunalwahl. Immer wieder nahm die SPD Anlauf, Boden gut zu machen. Erst 1991 hatte sie mit den Grünen als Koalitionspartner eine Ein-Stimmen-Mehrheit: Wehner wurde zum Bürgermeister gewählt und 1996 bestätigt. 1997 wurde er zum ersten hauptamtlichen Bürgermeister seiner Heimatstadt gewählt. Er blieb bis Oktober 2006 im Amt. Dazwischen gab es 2001 eine zerbrochene Koalition mit den Grünen und ein Zusammengehen mit der FDP.

2006 wurde Ulrich Minkner zum Bürgermeister gewählt – im Rat hatte er allerdings eine Jamica-Koalition gegen sich. »Fünf Jahre Stillstand«, lautete Wehners Fazit. Viele Einbecker, vor allem aus dem bürgerlichen Lager, hatten das bald satt. Es bildete sich die Wählergemeinschaft »Gemeinsam für Einbeck«, und damit war das alte Parteiengefüge aufgebrochen. Ab 2011 wurde mit wechselnden Mehrheiten regiert, auch nach der Eingliederung der Gemeinde Kreiensen ab 2013. Bei der daraus notwendigen Bürgermeister-Direktwahl wurde Dr. Sabine Michalek gewählt. Die letzte Kommunalwahl brachte für die SPD 2016 deutliche Gewinne, aber keine absolute Mehrheit.

Die SPD sei zu allen Zeiten eine Programmpartei gewesen, eine vernünftige Balance zu finden zwischen Programm und dem Streben nach politischer Macht, war ihr Problem – eine Diskussion, die etwa CDU und FDP fremd war.

In den ersten Nachkriegsjahren waren die Inhalte vorgegeben: Versorgung mit Lebensmitteln Wasser, Strom, Infrastruktur, Wohnungen – eine wahre Herkulesaufgabe, die die damaligen Entscheidungsträger gut gemeistert hätten, insbesondere Wilhelm Messerschmidt und Auguste Jünemann. Sportanlagen, soziale Einrichtungen, Schulneubauten, es tat sich viel. Zum Streitpunkt entwickelte sich die erste Fußgängerzone, die Anfang der 70er Jahren eingerichtet wurde. Das größte Projekt dieses Jahrzehnts war die Stadtsanierung.

»Wie bei fast allen Großprojekten waren die Konservativen dagegen«, stellte Wehner fest. Heute könne man es sich kaum noch vorstellen, wie Tiedexer Straße und Breil vor der Sanierung aussahen. Das Bundesprogramm konnte man nutzen, um wertvollen Wohnraum in der Innenstadt zu schaffen. Auch der größte Wunsch von Bürgermeister Dr. Voges, eine Musikschule nach Thiaiser Vorbild, ging in Erfüllung. Nicht erfüllt hat sich dagegen das Vorhaben »Einbecker See«. Ende der 80er Jahre wurde die Fußgängerzone erweitert – in geheimer Abstimmung hat die SPD die einzige Abstimmung dieser Zeit gewonnen.

Danach stellte sich die Sanierung des ehemaligen Heidemann-Geländes am Ostertor als großes Problem dar: Die historischen Gebäude standen leer. Es kam die Idee, hier alle städtischen Dienststellen im Neuen Rathaus zu konzentrieren. Um die Jahrtausendwende wurde erneut viel in die Schulen investiert, und man musste sich dem Thema Schuleinzugsbereiche stellen. Über viele Jahre stand in den Ortschaften das Thema Kanalisation auf der Tagesordnung. Dabei haben sich die Norddörfer für eigene Anlagen entschieden – nicht immer mit dem angekündigten Erfolg.

Ein besonderer Akt war laut Wehner der Kampf um den Erhalt der kommunalen Trägerschaft der Einbecker Wohnungsbaugesellschaft. Mit dem Ausstieg der Stadt Dassel sollte auch der Landkreis-Anteil verkauft werden. Dabei gelang es, eine Lösung mit Beteiligung von Sparkasse und Stadtwerken zu finden. Eine großartige Gemeinschaftsleistung, auf den Weg gebracht von ihm und Sparkassendirektor Jürgen Renken und von Stiftern umgesetzt, war die Rettungsaktion für das Eickesche Haus. Und in Ulrich Minkners Amtszeit als Bürgermeister fielen die Vorbereitung für den Bau des PS.SPEICHERs, die Rückkehr des EIN-Kennzeichens und die schnelle Neugestaltung des ehemaligen Poser-Geländes. Es erfülle ihn außerdem mit Freude und Genugtuung, dass sich ein langer Kampf gelohnt habe für die Reaktivierung der Bahnstrecke von Einbeck-Mitte nach Salzderhelden. Es sei viel Kraft nötig gewesen, um Angriffe auf den Schienenverkehr der Ilmebahn abzuwehren und Kritiker zu ertragen, gerade von konservativer Seite – daran habe er gedacht, als er kürzlich das erste Mal von Göttingen direkt durchgefahren sei.

Nach einem gestrafften Durchgang durch mehrere Jahrzehnte Einbecker Kommunalpolitik mit dem Schwerpunkt auf sozialdemokratischen Leistungen machte Wehner bei einem Thema doch einen Schlenker zu aktuellen Themen: Die Entscheidung der jetzigen Ratsmehrheit zum Ausbau der Tiedexer Straße und zu Straßenausbaubeiträgen sei nicht nur ein »Stück aus dem Tollhaus«, sondern es verstoße seiner Ansicht nach gegen die Kommunalverfassung. Es könne nicht angehen, dass die Baumaßnahme in voller Höhe im Haushalt stehe und zu ihrer Finanzierung Straßenausbaubeiträge eingesetzt seien, dass Vertreter der Fraktionen aber erklärten, keine erheben zu wollen: »Da ist Betrug oder Täuschung«.

Wer die Jahrzehnte passieren lasse, werde sehen, dass immer, wenn Sozialdemokraten in Einbeck eine Mehrheit hatten, große Projekte bewegt wurden. Die Stadt wurde nach vorn gebracht; in bürgerlichen Regierungszeiten ging es ruhiger zu, am schlimmsten bei »Jamaica«.

150 Jahre Sozialdemokratie in Einbeck das seien mindestens fünf Generationen Frauen und Männer für eine gerechtere, bessere Welt. Möglich sei vieles nur durch große gegenseitige Solidarität gewesen, ein Mit-, kein Gegeneinander – wie im Arbeiterlied »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’«.ek