Wenn Heimatgeschichte und Weltgeschichte sich treffen

Kriegstagebuch des Markoldendorfer Lehrers Otto Wilke vorgelesen / Normalität im Flecken mischte sich mit Fremdartigem

Da die Sonderausstellung »Markoldendorf stellt sich vor« im Museum »Grafschaft Dassel« viele Bezüge zur jüngeren Vergangenheit darstellt, lag es nur allzu nahe, auf das erst vor kurzem wiederentdeckte Kriegstagebuch des Markolden­dor­fer Hauptlehrers Otto Wilke hinzuweisen.

Dassel. Ortsheimatpfleger Thomas Männecke hat die in Sütterlinschrift verfassten Aufzeichnungen gesichtet und umgeschrieben. Sie sind nüchtern, aber dennoch so hautnah und lebendig formuliert, dass schnell beschlossen wurde, sie der Öffentlichkeit vorzustellen.

Der großen Zahl von Zuhörern, die sich im Museum eingefunden hatten, stellte Männecke  zunächst die Persönlichkeit von Otto Wilke vor. Trotz seiner Lehrtätigkeit bis 1947 an allen drei Markoldendorfer Schulen sei dieser ein introvertierter Mensch geblieben. Es drängte ihn aber, für die Schule aufzuschreiben, wie sich das »furchtbare Schreckgespenst eines zweiten Weltkrieges auf Markoldendorf auswirken wird«. Er begann 1939 zu schreiben und wurde 1941 vom damaligen Bauermeister Beismann beauftragt, offiziell ein Zeitdokument für die Gemeinde Markoldendorf zu verfassen. Wilke ging mit großer Präzision ans Werk, er hütete sich aber vor jeglicher Wertung oder gar Verherrlichung des herrschenden Regimes.

Mit seiner Vorlesekunst schlug Heinrich Sprink die Zuhörer rasch in seinen Bann. Die nüchtern formulierten Tatsachenberichte trafen genau das Erlebte in jener Zeit, aus einer Perspektive, die jeder nachvollziehen konnte. Mit einem bukolischen Satz beginnend, wie zum Beispiel, »Die Bauern gingen bedächtig ihrer Arbeit nach«, zeigt die Reportage auf, wie die Normalität des Lebens im Flecken mit dem Fremdartigen schleichend durchsetzt wird. Zunächst sind es mediale Erfahrungen und Ankündigungen: Man wird über politische Kraftakte des Führers und über Siege in verschiedenen Teilen Europas informiert. Neue Bestimmungen und Verordnungen verbiegen den gewohnten Gang der ländlichen Routinen wie Familienleben, das Beobachten der Witterungsverhältnisse, die Aussaat und Ernte, die Tierhaltung, das Schlachten.

Die Anforderungen für den Krieg nehmen bedrückend zu: Es kommt zu Abgaben von Ernteanteilen, Vieh und Fleisch, Altmetall und Kleidungsstücken, zu Einsätzen für die Herstellung von Fallschirmseide, Mohnkapseln sollen gesammelt werden. Immer stärker gerät das Leben in den Sog der noch fern tobenden Kriegsfurie. Doch für Etliche ist der Krieg schon schmerzlich nahe, wenn Bürger des Ortes eingezogen werden und ihre Aufgaben in der Gemeinde nicht mehr verrichten können, wenn nun auch Verwundete und Gefallene aus der Verwandtschaft zu beklagen sind, wenn Rationierungen den Lebensstandard auf das Allernötigste einschränken.

Eine ganz neue Situation ergibt sich für die Bürger, als Evakuierte und Ausgebombte aus fernen Städten plötzlich die Säle der Gastwirtschaften zu Notquartieren machen, wenn Einquartierungen von Fremden, Alten und Gebrechlichen auf sie zukommen, wenn Enge und Ekel überwunden werden müssen.

Schließlich werden die Bedrohungen des Luftkrieges leibhaftig. Flugzeuge stürzen in der unmittelbaren Nachbarschaft ab, Bombenangriffe in der Umgebung zeichnen sich mit Getöse und schaurigen Lichterspielen am Himmel ab. Alarmsirenen verbreiten Furcht vor der Zerstörung des eigenen Ortes, der beschaulich in seiner Landschaft mit Feldern und Wiesen ruht. Splitterschutz und Kellersicherung beschäftigen die Markoldendorfer jetzt.

Alle noch anwesenden Männer zwischen 16 und 60 Jahren werden zum Volkssturm angemustert. Die immer engere zeitliche Taktung der Aufzeichnungen spiegelt die Dynamik der chaotischen Endphase des Krieges wider. Nun ist der Krieg leibhaftig vor der Haustür, Panzerkettengeklirr wird hörbar, Soldaten tauchen überall auf.

Die Scheune bei der Bruchmühle wird in Brand geschossen, auch anderswo brennt es. Glücklicherweise drehen die Truppen wieder ab, doch Durchhalteparolen zwingen die zermürbten Menschen zur Verteidigung von Markoldendorf. Am nächsten Tag aber erfolgt wieder der Befehl zum Abräumen der Barrikaden, dann sind erneut Verteidigungsvorbereitungen angesagt, schließlich werden weiße Fahnen geschwenkt. Erleichterung kommt auf, selbst wenn noch unbekannt ist, was weiter geschehen wird.

Sprink beendete seine Lesung mit dem Kapitulationsgeschehen im Mai 1945. In eleganter Weise hatte er die einzelnen Leseabschnitte jeweils  mit zeitgenössischen Gedichten durchsetzt und vertieft. Das Publikum dankte ihm begeistert und forderte nach lebhaften Gesprächen, dass auch die Aufzeichnungen Wilkes aus der ersten Nachkriegszeit zu Gehör gebracht werden mögen. Professor Ludger Kappen als Veranstalter dankte Sprink und Männecke für diesen äußerst gelungenen Nachmittag und versprach eine weitere Veranstaltung im Spätsommer.
oh

Dassel

Hegering IV sammelt Müll

Osterfeuer lockte Jung und Alt auf den Steinberg