Abenteuerlicher Umzug: Das große Zocheln

Bodenständige Neuer-Markt-Bewohner gegen hochnäsige »Marktsträßler«

Blick durch den Neuen Markt. Im Hintergrund ist die alte Mittelschule zu sehen. Die Passanten ziehen mit verschiedenen Handkarren über die Straße. Das Foto ist zwar aus der Zeit nach 1910, aber so oder so ähnlich muss es ausgesehen haben, als die Familie Rolfs in Richtung Marktstraße »zochelte«.

Einbeck. Eine Geschichte aus Einbecks »guter alten Zeit« findet sich in einer Ausgabe von »Tecklenburgs Heimatkalender für das Jahr 1929«. In der Anekdote »Als wir zochelten« beschreibt Karl Rolfs den abenteuerlichen Umzug seiner Familie vom Neuen Markt in die Marktstraße: »Ob ich wohl zwei Tage frei kriegen könnte, wir wollten morgen zocheln«, fragte er seinen Lehrer Reinecke. »Ihr wollt nicht zocheln, sondern umziehen.«

Karl Rolfs Vater hatte sein Haus am Neuen Markt verkauft und dafür eins an der Marktstraße erstanden. Die Marktstraße war die beste Geschäftslage der Stadt. Sie gehörte aus der Sicht des Erzählers zur sogenannten Neustadt und war gewissermaßen das feinere Viertel. Dort wohnten die wohlhabenden Kaufleute und größeren Handwerksmeister.

Die Bewohner des Neuen Marktes waren schlecht auf die protzigen und hochnäsigen Neustädter zu sprechen, am liebsten hätten sie ihnen den Weg durch ihre Straße verweigert, »wenn diese zum Walde oder zum Kirschenberge pilgern wollten. Wie herzlich klang das «Guten Tag” zwischen den Nachbarn des Neuen Marktes und den angrenzenden Kartellstraßen, und wie kühl und gemessen war der Gruß einem Neustädter gegenüber!« Offensichtlich gab es Vorbehalte zwischen den anscheinend vornehmeren Marktstraßenbewohnern und den eher einfachen Leuten vom Neuen Markt.

Damals schien auch das Wohnen zur Miete ein Zeichen für einen schlechteren sozialen Status zu sein: »In der Marktstraße waren die Häuser größer, viele Besitzer hatten dort vermietet. Man stelle sich vor, es gab Leute, die zur Miete wohnten, na, das waren ja aber auch nur Bürger zweiter Klasse, zugezogene Beamte usw. Im Neuen Markt hatte jeder sein Haus, selbst der alte Helmke hatte ein Eigentum und gleich vor dem Tore einen Garten, alles schuldenfrei.«
Rolfs beschreibt auch den Übergang von der guten alten Zeit einer Ackerbürgerstadt zur modernen Konsumgesellschaft: »Die Leute in der Marktstraße fingen sicher an zu degenerieren, sie kauften ihre Kartoffeln, und nicht mal mehr sack- oder himptenweise, nein, die waren ja so klug und kauften nach Pfund und holten sie in der «Tute”. Na, es wurden Witze darüber gerissen.«

»Vor zehn Jahren hatte der Schuster Hoppe auch mal den Größenwahn gekriegt und war in die Marktstraße gezogen. Ein Jahr später hatte er sich aufgehängt«.

Doch zurück zum »Zocheln«: »Alle Tagelöhner und Mannen waren aufgeboten. Onkel Rehse erschien mit seinem Sprößling Schluck-Willem, sie führten einen Handwagen mit sich, der alte Helmke stellte sich mit großem Schubkarren ein, der baumlange Hasselmann, der dicke Steinwedel, alle kamen sie mit Transportgeräten zu Hauf, vor unserem Hause fuhr eine richtige Wagenburg zusammen.«

Alle möglichen Einrichtungsgegenstände und Gebrauchsutensilien wurden aufgeladen, »die hochaufgetakelte Fuhre dann an den Seitenwänden noch bunt mit Gießkannen, Nachtgeschirren und anderen wichtigen Gebrauchsgegenständen drapiert. Helmkes Schubkarren faßte die Schweineschlachtgeräte, Abbrennetrog, Wursteschwiemel und Sülzenpresse, dann folgte wieder ein Wagen Hausrat, ein anderer brachte die Werkstatt-Einrichtungen, hinterher kam eine Fuhre Ackergeräte, und so alles bunt durcheinander.

Auf ein gegebenes Zeichen setzte sich die Karawane in Bewegung, hin und her schwankten die kleinen Wägelchen mit dem turmhohen Ballast. Das dritte Fahrzeug mußte der kleine, dicke Steinwedel mit langer Stange begleiten, es war schief geladen und legte sich bedenklich von einer Seite auf die andere. Steinwedel hatte keinen leichten Posten, mit der Stange die Balance zu halten. Langsam ging es voran. Einen solchen Zug hatte bisher wohl nur die Prärie im wilden Westen gesehen, als die ersten Ansiedler anrückten.

In der Marktstraße hatte man schon vor Wochen die Kunde vernommen, daß ein kleiner Völkerstamm aus dem Neuen Markt seinen bisherigen Wohnsitz verlassen wollte, um sich in der Neustadt anzusiedeln.

Es war doch unerhört, na, man wollte die Eindringlinge schon merken lassen, wer und was die Marktsträßler waren!

Als der erste Wagen unseres Trains an der Marktkirche gesichtet wurde, verschwand alles sofort aus den Haustüren, die Straße war wie ausgestorben, aber am Stubenfenster stand man und lugte hinter der Gardine hervor. Jetzt konnten ja auch man gleich wieder Hunnen und Tatern einrücken, nun war ja alles egal. Und wieviel Kinder hatten Rolfens, Herrgott noch einmal! Es war einfach ein Skandal! – Wir kümmerten uns aber nicht im geringsten um die neuen liebenswürdigen Nachbarn, machten uns auch rein gar nichts aus der großen Schadenfreude, die alle auf die Straße lockte, als unser Gefährt Nr. 3 kurz vor dem Ziele umschmiß. Steinwedel hatte die Balance mit bestem Willen nicht mehr halten können. Den ganzen Tag über zogen die Wagenfuhren, erst gegen Eintritt der Dunkelheit langte das letzte Gespann, ein weidengeflochtener, dickbauchiger Kinderwagen an, in dem meine jüngste Schwester der neuen Heimat entgegenfuhr, sie war erst fünf Monate alt. Das Zocheln war überstanden.

Erst ganz langsam gewöhnten sich die Marktsträßler an unsere neue Nachbarschaft, es hat Jahre gedauert, bevor wir als einigermaßen ebenbürtig galten. Von nun an begann für uns Kinder ein neues Zeitalter. Die Poesie des Neuen Marktes war für immer dahin, eine neue Aera des Materialismus war angebrochen«.wk