Archäologie legt Gräberfelder frei

Vorarbeiten am Kirchplatz | Kirchenstandort seit dem 13. Jahrhundert | Gesucht: Fotos der 1963 abgerissenen Kirche

Zahlreiche und zum Teil sehr gut erhaltene Skelette sind bei den archäologischen Vorarbeiten für die Gestaltung des Neustädter Kirchplatzes entdeckt worden.

Einbeck. »Gräber überall«, sagt Archäologe Markus Wehmer. Die Zahl der Bestattungen aus dem späten 17. und dem 18. Jahrhundert könnte bei bis zu 200 liegen. Erwachsene und Kinder liegen hier begraben, unterschiedliche Bestattungsbräuche lassen sich noch nach Jahrhunderten erkennen: Auf der Baustelle am Neustädter Kirchplatz finden derzeit archäologische Grabungen statt. Entdeckt haben die Archäologen vor Ort dabei auch Unerwartetes.

Von besonderem Interesse ist diese Fläche mit Blick darauf, dass hier früher vermutlich einmal drei Kirchen gestanden haben: Eine erste Kirche ist in der Einbecker Neustadt in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhundert errichtet worden. Nach einer Umbauphase war 1463 die zweite Kirche fertig, mit einem massiven Turm vor dem west­lichen Portal gegenüber dem Eingang des heu­tigen Amtsgerichts. Das Turmfundament hatte Maße von 20 mal 20 Metern, und es war drei Meter dick. An der Stelle des heutigen Amtsgerichts befand sich das Maria-Magdalenen-Kloster, und von dort gab es einen Übergang zum Turm, so dass die Augustinerinnen direkt zum Gottesdienst auf die Empore der Kirche gelangen konnten. Gebaut wurde diese zweite Kirche auch mit Fassadensteinen der Vorgängerkirche. Lange stand sie allerdings nicht in ganzer Pracht, denn beim Stadtbrand 1540 wurden auch große Teile von St. Marien zerstört, insbesondere der Turm, der nicht wieder aufgebaut wurde. Auf dem Stadtplan von 1814 hat Archäologe Wehmer entdeckt, dass sich westlich der Kirche damals das Spritzenhaus der Feuerwehr befand. Die komplette Zerstörung dieser zweiten Kirche folgte beim Brand von 1826. 14 Jahre blieb der Platz leer, bis von 1840 bis 1846 im neugotischen Stil eine weitere, die dritte Neustädter Kirche gebaut wurde. Sie hatte eine neue Westfassade, ein flacheres Dach und einen kleineren Turm im Ostbereich. Aufgrund massiver Bauschäden wurde sie 1963 abgerissen.

So viele Kirchenbauten am selben Platz, das lässt eine Vielzahl von Gräbern in direkter Nähe, auf dem Kirchhof, erwarten. Freigelegt wurden unter anderem die Skelette von Kindern. In der Barockzeit, auch das konnte nachgewiesen werden, haben die Mädchen Totenkronen getragen, sie stehen für die Brautkronen, die die jung Verstorbenen nicht mehr tragen konnten, und sie waren ein Symbol für die Heirat im Himmelreich. Totenkronen waren in ganz Mitteldeutschland verbreitet, berichtet Archäologe Wehmer; meist gab es ein größeres Exemplar für die Aufbahrung zuhause und ein kleineres, das mit ins Grab gegeben wurde. Teilweise sind noch Metallreste beziehungs­weise Verfärbungen durch das Metall auf dem Schädel zu sehen. In einem Fall sind um den Kopfschmuck sogar Reste von blondem Haar erhalten geblieben, berichtet Archäologe Frank Wedekind, aufgrund des Zahnstatus vermutlich von einer Vier- bis Fünfjährigen. In einem Grab liegen zwei Kinder gemeinsam – möglicher­weise Geschwister, die zur gleichen Zeit verstorben sind.

Ebenfalls gefunden wurden Münzbeigaben, der sogenannte »Pfennig für den Fährmann«. Das sei nicht gern gesehen worden, so Markus Wehmer, deshalb habe man die Münzen in der Kleidung oder unter der Leiche versteckt. Die Aufarbeitung der Münzen wird den Archäologen die genaue Datierung der Sterbefälle ermöglichen.

Nachvollziehbar sind an vielen Gräbern auch noch die Sargbretter; zum Teil ist zerfasertes Holz zu erkennen, zum Teil sind die Reste der Sargnägel zu sehen.
Allein 100 bis 200 Skelette oder sterbliche Überreste werde man in diesem verhältnismäßig kleinen Abschnitt freilegen, der jetzt bearbeitet werde, schätzt Wehmer; bis zu 3.500 seien es im gesamten Kirchenbereich. Dicht an dicht habe man üblicherweise bestattet, zum Teil über­einander oder mit Überlagerungen. Das erkläre auch, wieso an einigen Skeletten Teile fehlten oder warum sie verschoben seien und nicht in der üblichen Achse von West nach Ost liegen würden, so Anthropologin Sarah Nöcker. Bis 1783 wurden Beisetzungen hier vorgenommen, danach wurde nur noch der Neustädter Kirchhof genutzt, der einige Jahre zuvor eingerichtet worden war.

In nur geringer Tiefe von 50 bis 60 Zentimetern haben die Archäologen bisher Grabstellen freigelegt, ganz flach also unter dem früheren Parkplatz- und Straßenverlauf. Bis auf eine Tiefe von 1,50 Meter sollen die Arbeiten noch fortgesetzt werden. Zurzeit wird an einer »zweiten Lage« Gräber gearbeitet. Dabei entsprechen die bisherigen Befunde auch etwa den Erwartungen. Nachdem der Bagger die Vorarbeit geleistet hat, erfolgt die Arbeit an den Gräbern in kleinteiliger Handarbeit. »Das dauert also noch«, kündigt Markus Wehmer an. Voraussichtlich werde man über das eigentlich geplante Ziel Ende April hinaus beschäftigt sein mit diesen Vorarbeiten zur Platzgestaltung, wenn man alles vernünftig ausgraben und dokumentieren wolle. Mit den Skeletten, betont er, gehe man natürlich behutsam und pietätvoll um.

Viele Fragen sind dabei inzwischen beantwortet, einige dagegen noch nicht gelöst: Zu ­welchem Kirchenbau gehören die starken Fundamente, was sagen die Ausbruchsgruben über die Vorgängerbauten aus? Fest steht, dass an der Kirche viel umgestaltet wurde und sie ihr Aussehen verändert hat, etwa durch die Zahl der ­Strebepeiler, eventuell auch durch neue Fenster.

Neben den Fragezeichen stehen aber auch Funde, etwa Sandstein vom letzten Kirchenfußboden sowie Punktfundamente auf der Ausbruchsgrube – Überreste der Träger der Holzsäulen der Kirche.

In zwei nachträglich eingebauten Kellerräumen, vermutlich für die Heizung, sind viele Formsteine entdeckt worden, die dort abgekippt waren. Anhand alter Bilder und Stiche lässt sich nachvollziehen, was an welche Stelle gehörte, etwa bei den Fensterlaibungen – man kann die Steine »sprechen« lassen. Es ist sogar zu erkennen, dass Akzente farblich gesetzt waren. Interessant sind hier zudem die Steinmetzzeichen; ginge man in die Tiefe, könnte sich anhand eines Registers vermutlich zu­ordnen lassen, wer welchen Stein bearbeitet hat. Zu den Funden zählen darüberhinaus Scherben von bunten Kirchenglasfenstern. Ausgewählte Teile dieses »spannenden Puzzles«, wie ­Archäologe Norman Wetzig es nennt, sollen ins Stadtmuseum kommen.

Erkenntnisse hat das sechsköpfige Grabungsteam der Firma Streichardt & Wedekind auch zu den Kirchenfundamenten von St. Marien gewonnen: Bis zu drei Meter tief waren sie, und der Abbruch erfolgte 1963 nur soweit, wie man es danach für die Anlegung des Parks auf dem Neustädter Kirchplatz benötigte.
Von der Neustädter Kirche, wie sie vor dem Abriss ausgehen hat, gibt es bedauerlicherweise nur wenige Fotos. Vor allem Fotograf Rudolf Lindemann hat sie in schwarz-weiß festgehalten. Archäologe Markus Wehmer wäre deshalb darüber hinaus dankbar für jedes Foto, das Einbecker noch in ihren privaten Fotoalben haben und das sie dem Stadtarchiv zur Verfügung stellen würden. Eine besondere Kostbarkeit dürften dabei Farbfotos vom Innenraum sein – vielleicht verfügt jemand über einen solchen Schatz. Markus Wehmer freut sich auf Rückmeldungen unter Telefon 05561/916-381 oder per E-Mail an mwehmer@einbeck.de.ek