Aus Erinnerung erwächst Verantwortung für Zukunftsgestaltung

Goetheschüler hören Vortrag von Dr. h.c. Joachim Gauck / Angebot zum Mitwirken an der Demokratie in Deutschland

Vor 20 Jahren gelang den Deutschen, was viele bis dahin für unmöglich gehalten hatten: Eine friedliche Revolution der DDR-Bürger ermöglichte den Sturz des SED-Regimes und führte in letzter Konsequenz zur Überwindung der Nachkriegszeit, als durch die »2 + 4-Gespräche« ein geeintes und souveränes Deutschland entstand.

Einbeck. Damit die gegenwärtige Generation nicht vergisst, die künftige Generation verstehen kann, was damals geschah, finden in diesen Tagen des Erinnerns etliche Veranstaltungen statt – so auch in Braunschweig in der Volkswagen-Halle. Mit Unterstützung von Sponsoren war es gelungen, einen der profiliertesten Zeitzeugen einzuladen, den Bürgerrechtler Dr. h.c. Joachim Gauck.

Gauck, der Öffentlichkeit der Bundesrepublik zuletzt als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten ins Bewusstsein gerückt, sprach vor 6.000 niedersächsischen Schülern über seine Erfahrungen eines Lebens in der Diktatur und den Aufbruch in ein Leben in Freiheit und Demokratie. Dass auch die Jugend diesem Mahner für die Demokratie großes Interesse entgegenbringt, darauf verwies Christoph Schulz, Vorstandsvorsitzender der Landessparkasse Braunschweig, in seinem Grußwort. 1.800 Absagen hätten ausgesprochen werden müssen.

Vor diesem Hintergrund war es besonders erfreulich, dass die Goetheschule Einbeck durch aufmerksame Organisation des Fachbereichs Geschichte – besonderer Dank gebührt Markus Merl – eine der 66 Schulen war, die das Auditorium bilden durften.

Die weiteren Grußworte, gehalten von Dr. Gert Hoffmann, Oberbürgermeister der Braunschweig, Armin Maus, Chefredakteur der Braunschweiger Zeitung, und Dr. Bernd Althusmann, als Kultusminister Niedersachsens Schirmherr der Veranstaltung, stimmten mit dem Rückblick auf die Teilung Deutschlands ein auf die Veranstaltung. Sie zeigten aber auch auf, dass das Erinnern nicht des Erinnerns willen geschehen darf, sondern dass daraus eine Verantwortung für die Gestaltung einer besseren Zukunft erwächst, einer Zukunft, die in den Händen der Schülerinnen und Schüler liegt.

Als Auftakt seiner Rede wählte Gauck genau dieses Ursachen – Folge Gefüge: Er bot den Schülern an, sie mit auf eine Reise in ein fremdes Land zu nehmen, also die Vergangenheit der DDR zu imaginieren. Er bot ihnen an, so lange zu reden, bis sie verständen, wo sie heute leben. Er bot ihnen an, über die aus diesem Verständnis erwachsende Möglichkeit zum eigenverantwortlichen Handeln nachzudenken.

Vor dem Hintergrund seiner mecklemburgischen Heimat skizzierte Gauck die fiktiven Lebensläufe zweier Kinder, die wie in einem Brennglas die Erfahrungen etlicher DDR-Bürger bündelten. Und so begleiteten Zuhörer das kleine Mariechen auf seinem Weg ins Leben durch Kindergarten und Schule, erlebten Lieder und Spiele, Jungpioniere, Thälmann-Pioniere sowie die Freie Deutsche Jugend (FDJ) mit entsprechenden Ritualen. Verdeutlicht wurde, dass gerade die Zwischentöne das Prägende und das Gefährliche waren, eine Diktatur sich niemals nur schwarz und bedrückend gibt. Der schleichende Prozess der Vereinnahmung bedroht das fiktive Mariechen, das seinen Weg finden muss zwischen oppositionellem Elternhaus und der ideologischen Erwartungshaltung des Staates. Mariechen, das stellvertretend für das Leben von Frauen steht, wird nun in Gaucks Rede Paul an die Seite gestellt, das mögliche Schicksal eines männlichen Pendants gezeigt: Paul erfährt kurz vor dem Abitur, dass Abitur und Studium nicht gratis zu haben sind. Der Staat erwartet den mehrjährigen, unfreiwillig-freiwilligen Dienst in der Nationalen Volksarmee (NVA). Hier wie auch später bei möglichen Karrieresprüngen in der Berufswelt wird Konformität erwartet.  »Gehorsam bringt weit, Feigheit ist normal«, so Gauck. In diesem Sinne könne jeder leben und überleben in der Diktatur, was die potentielle Möglichkeit zu dieser Staatsform zeitlos mache.

Dass sich hinter der Maske der Fiktion von Mariechen und Paul durchaus menschliche Enttäuschungen, menschliche Tragödien verbergen, zeigte Gauck anhand der Enthüllung einer dieser Teilgeschichten, hinter denen sich das Schicksal seines Bruders verbarg, der aufgrund seiner Systemkritik gezwungen war eine hoffnungsvolle Karriere zur See zu beenden.

Doch wie wurde der Weg frei für Veränderungen? Gauck wertete zunächst das Vorbild anderer Ostblockländer als Auslöser für die Bürgerrechtsbewegung, deren Kraft von der Absage an die Angst herrühre. So stand für ihn die innere, individuelle Freiheit vor der äußeren, staatlichen  Einheit. Das Sich-Selber-Wahrnehmen, der Mut, Gutes wie Schlechtes zu benennen, das Umschauen nach Bündnispartnern, das Gefühl: Ich bin zuständig – dort, wo all das vorhanden sei, da sei Befreiung im Gange.

Das Eintreten für die individuelle Verantwortung, die Grenzen sprengen kann, ist zu Gaucks Credo geworden: Die Befähigung zum Eingreifen mache den Bürger aus, und in diesem Sinne sei jeder dazu beschaffen, Bürger zu sein. »Ich bin bezogen auf das, was uns ausmacht.« Mit diesem Schlusssatz knüpft Gauck an die humanistische Tradition Europas an. Mit seiner Redekunst gewann er die Aufmerksamkeit seines jungen Publikums, das seine Rede als ein überzeugendes Angebot zum Mitwirken an der Zukunft des vereinten und freien Deutschlands verstehen konnte.oh