Bei akutem und chronischem Schmerz kann geholfen werden

Dr. Josef Nelles, Chefarzt der Anästhesie am Einbecker Sertürner-Krankenhaus, spricht beim Förderverein über Schmerz und Therapie

Schmerz kann ein Symptom für eine Krankheit oder Verletzung sein, er kann aber auch chronisch und zur eigenständigen Krankheit werden. Über Schmerzen hat Dr. Josef Nelles, Chefarzt der Anästhesie des Sertürner-Krankenhauses Einbeck, jetzt beim Verein der Freunde und Förderer des Krankenhauses referiert. Dabei stellte er sowohl Ursachen als auch Therapiemöglichkeiten vor.

Einbeck. Seit dem 1. April ist Dr. Josef Nelles Chefarzt in Einbeck. In Höxter hat er in den vergangenen Jahren einen Schwerpunkt Schmerztherapie aufgebaut. Das möchte er auch in Einbeck tun. Schmerzen können in vielfältiger Weise auftreten. Fast jeder kennt Kopfschmerzen. Schmerzen treten auch auf im Bereich des Gesichts, bei Durchblutungsstörungen, in Rücken und Gelenken, etwa durch Verschleiß, im Bauch durch funktionale Störungen, durch Tumore, durch Krankheiten wie Gürtelrose, aber auch durch psychische Veränderungen. »Schmerzen sind vorhanden, wenn der Patient sagt, dass er Schmerzen hat«, das sei eine gute Definition, so Dr. Nelles. Starker Schmerz bringt in der Regel drei Komponenten mit: Muskel-, Nerven- und Entzündungsanteil. Nach einer Verletzung wird ein elektrischer Impuls über das Rückenmark an das Gehirn gegeben, das den Schmerz registriere. Mit modernen Methoden kann das sichtbar gemacht werden.

Der Schmerz hat verschiedene Ebenen: Er wird wahrgenommen, verursacht einen Flucht- oder Rückzugsreflex oder mimische Veränderung, er äußert sich durch Muskel-anspannung oder Veränderung in Atmung und Blutdruck. Die Bewertung von Schmerz erfolgt abhängig von Alter, Bildung und kulturellem Hintergrund, ebenso der Umgang damit. Schmerz sei nicht gleich Schmerz, so Dr. Nelles, jeder empfinde ihn anders. So gebe es bei Patienten und Therapeuten unterschiedliche Schmerzvorstellungen.

Am Anfang der Behandlung müsse eine umfangreiche Untersuchung der Vorgeschichte stehen (Anamnese), bei der die Hintergründe des Patienten berücksichtigt werden müssten. Die Autonomie des Patienten sei bei der Behandlung ganz wichtig. Unterschiede gebe es bei akuten und chronischen Schmerzen. Während akuter Schmerz häufig eine Schutzreaktion sei, er einfach verarbeitet werden könne und durch die Umwelt akzeptiert werde, gehe  man im chronischen Fall von übernormaler Heilzeit aus. Der Schmerz habe seine Melde-, Schutz- und Hilfsfunktion verloren, sei zur eigenständigen Krankheit geworden. Bei der Umwelt gebe es häufig nur geringe Akzeptanz, der Betroffene spüre psychische, physische und soziale Auswirkungen.

Wenn Schmerzen nicht rechtzeitig oder ausreichend behandelt werden, kann sich ein sogenanntes Schmerzgedächtnis ausbilden. Das sollte man in jedem Fall verhindern. Frühzeitige Behandlung, ein Akutschmerzdienst oder die Schaffung eines Schmerzbewusstseins können dazu beitragen. Von chronischem Schmerz spricht man, wenn er länger als drei bis sechs Monate dauert. Er kann dann neben den körperlichen auch seelische Beeinträchtigungen mit sich bringen. Schmerz, führte der Mediziner aus, führe zum Teufelskreis mit Isolation, Mobilitätsverlust und neuem Schmerz. »Schmerz, Angst und Depressionen gehören zusammen, sie sind im Gehirn verbunden und verschaltet.«

Chronischer Schmerz sei schwer zu behandeln: Es dürfe nicht nur die körperliche Ebene beachtet werden, sondern auch psychische Faktoren müsse man sehen. Eine Monotherapie bringe deshalb schlechte Ergebnisse. Besser geeignet sei eine multimodale Therapie mit mehreren Bausteinen. Krankengymnastik könne ebenso dazu zählen wie Elektrische Nervenstimulation (TNS), Gesprächs- und Verhaltenstherapie, Hypnose, Autogenes Training, Muskelentspannung nach Jacobson oder Biofeedback. Zu den Möglichkeiten zählen weiter Naturheilkunde, Akupunktur, Qi Gong, Homöopathie, Diätetik oder Pflanzentherapie. Nicht alles sei für jeden geeignet oder nützlich, betonte der Referent. Daneben stehen Medikamente zur Verfügung. Während Aspirin bei akuten Kopfschmerzen geeignet sei, sei es bei chronischen Schmerzen nicht angezeigt. Bei den Nicht-Opiaten stehen Wirkstoffe wie Paracetamol oder Ibuprofen zur Wahl, in schweren Fällen kann man auf Opiate zurückgreifen. Hinzukommen müssten häufig Begleitmedikamente gegen Erbrechen, Übelkeit oder Verstopfung. Die Weltgesundheitsorganisation hat gegen chronische Schmerzen eine Stufentherapie entwickelt: mit einfachen Medikamenten beginnen, dann über schwache und starke Opiate bis zu Morphin und invasiven Verfahren steigern.

Wenn man in Einbeck sei, dürfe man den  Entdecker des Morphins, den Namensgeber des Krankenhauses, Friedrich Sertürner, nicht vergessen, erinnerte Dr. Nelles. Die Nutzung der Milch des Schlafmohns für die Schmerzmedizin sei eine der zentralen Entdeckungen in diesem Bereich. Opiate legen ein »Mäntelchen« über das Schmerzempfinden, die Ursache wird nicht behoben, der Schmerz wird aber als nicht mehr so schlimm gespürt. Gegen Opiattherapie gebe es Vorurteile bei Ärzten und Patienten. Der Einsatz sei nicht bei allen Schmerzformen sinnvoll. Ein Vorteil sei, dass keine Organschäden eintreten würden, während andere Mittel Niere, Magen und Leber schädigen könnten. Außerdem gebe es nur sehr selten eine psychische Abhängigkeit. Verschiedene operative Methoden machen es ebenfalls möglich, schweren chronischen Schmerzen zu begegnen, etwa Nervenblockaden, Einsatz von Pumpen oder Stabilisierung der Wirbelsäule.

Viele Patienten hätten unrealistische Therapieerwartungen, berichtete Dr. Nelles. Ein Grund sei, dass die Versprechen von Behandlern und Pharmaindustrie kaum zu erfüllen seien. Die Lösung sei in jedem Fall eine vielseitige, ganzheitliche Therapie nach individuellem Konzept. Dazu brauche es Zeit für Aufklärung und Information, aber auch die aktive Mitarbeit des Patienten.

Etwa sieben bis acht Millionen Menschen leben in Deutschland mit chronischen und wiederkehrenden Schmerzen. Einen wesentlichen Anteil daran haben Rückenschmerzen, unter denen 60 Prozent der Bürger mindestens einmal im Jahr leiden. Zehn Prozent sind sogar dauerhaft beeinträchtigt. Damit verbunden sind hohe Kosten sowohl im medizinischen als auch im volkswirtschaftlichen Bereich. Jeder vierte Patient komme wegen Schmerzen in die Arztpraxis, eine flächendeckende Versorgung sei aber nicht gegeben: Nur jeder Fünfte werde ausreichend versorgt, denn es gebe etwa nur 1.000 spezialisierte Ärzte.

Acht bis zehn Jahre könnten bis zum Beginn einer angemessenen Schmerztherapie vergehen, denn leider gehöre dieser Bereich noch nicht zur ärztlichen Pflichtausbildung. Am Sertürner-Krankenhaus soll voraussichtlich ab Oktober eine Schmerzambulanz eingerichtet werden. Im Stadtoldendorfer Charlottenstift wird ein multimodaler Ansatz in Kooperation mit Naturheilkunde und Traditioneller Chinesischer Medizin angeboten. »Therapie von Schmerzen ist die ursprünglichste Aufgabe von Ärzten und Pflegenden«, betonte Dr. Nelles. ek