Zwei Schwestern aus der Wolperstraße

Portraitstudien aus der Anfangszeit des Einbecker Malers und Grafikers Franz Cestnik ab Anfang Februar in der Galerie

Eine Bleistiftzeichnung von 1949, 20,5 mal 24,5 Zentimeter, mit dem Titel »Tante Minna« ist in der Cestnik-Galerie in der Tiedexer Straße zu sehen.

Einbeck. Der Zweite Weltkrieg, in dem er mehrfach schwer verwundet worden war und ein Auge verloren hatte, war kaum zu Ende, als sich der junge Franz Cestnik entschloss, nicht mehr in seinen erlernten Beruf als Musterzeichner zurückzukehren. Stattdessen wollte er freischaffender bildender Künstler werden und stürzte sich mit Feuereifer darauf, die Voraussetzungen für das neue Metier zu erlernen.

Unabdingbar war nach seiner Überzeugung, nach der Natur zeichnen zu können und das Porträtieren zu lernen. Wäre die Ausbildung an einer Kunsthochschule erfolgt, hätten ihm in Ateliers Modelle zur Verfügung gestanden. Ein Studium war für ihn aber aus finanziellen und familiären Gründen nicht möglich. Also musste Franz Cestnik in seinem privaten Umfeld auf die Suche nach Motiven gehen.

Wer bei 3 nicht auf den Bäumen war, riskierte mit hoher Wahrscheinlichkeit, von ihm gezeichnet zu werden. Ab und zu gelang es ihm, Bewohner des nahegelegen Altenheims zum Stillhalten zu bewegen. Oft aber waren seine Mutter Johanne und ihre Schwester Wilhelmine seine Opfer.

Sieben dieser Porträtzeichnungen in Bleistift, Tusche, Kreide und Rötel und ein Aquarell werden ab dem 3. Februar in der Cestnik-Galerie in der Tiedexer Straße in Einbeck ausgestellt. Entstanden sind sie in den Jahren 1947 bis 1949. Erkennbar ist das Bemühen um eine möglichst naturgetreue Wiedergabe der Frauen, was Franz Cestnik gelingt, weil er akribisch arbeitet indem er feinste Schattierungen und differenzierte Binnenschraffuren einsetzt oder beim Aquarell mit sehr delikat abgestuften Farbnuancen arbeitet.

Die Bleistiftzeichnung seiner Tante Minna aus dem Jahr 1949, das zeitlich jüngste Blatt, fällt ein wenig aus dem Rahmen. Hier konzentriert sich Cestnik auf die »Kultur der reinen Linie«, die nach einer sehr kurzen und intensiven Zeit des Übens seinen Stil ausschließlich bestimmen wird, wie Richard Hiepe in seiner Monographie zum Werk des Künstlers aus dem Jahr 1986 betont: »Cestnik hat sehr bald aufgehört, vor Ort richtig zu zeichnen und Bilder zu verwechseln mit dem Abgemalten.«

Die bescheidene, kleine Skizze enthält bereits alle Merkmale, die seine Handschrift in Zukunft prägen werden. Mit wenigen Strichen - reduziert auf die reine Umrisszeichnung - entstehen Bilder, die nicht mehr Wirklichkeit imitieren, sondern das Wesentliche eines Charakters sichtbar machen. Wer sich auch nur ein wenig mit Franz Cestniks Kunst beschäftigt hat, weiß, dass er sehr intensiv und systematisch aus dem Fundus seiner Zeichnungen und Skizzen schöpfte und die dort entwickelten Motive in Grafiken und Ölbilder umsetzte.

Das gilt auch für die Porträtstudien. Die Skizzen der Frau Oel und des Herrn Kuschbert aus dem Altenheim beispielsweise, die im gleichen Zeitraum wie die Porträts der zwei Schwestern entstanden, gehörten zu den ersten Motiven, die er zu Radierungen verarbeitete und der Öffentlichkeit zugänglich machte. Da mag es erstaunen, dass nie Zeichnungen von Familienmitgliedern weiterverarbeitet wurden, zu denen neben den Porträts der Mutter und der Tante, die momentan ausgestellt werden, auch Bilder seiner Söhne und seiner Freunde Walter Kahle und Alfred Doenicke zählen.

An der Qualität der Arbeiten kann es nicht gelegen haben, sondern wohl eher an der Diskretion des Künstlers, der sehr genau zwischen Privatleben und Beruf zu unterscheiden wusste. Familie und Freunde waren ihm wichtig und bildeten für ihn einen geschützten Raum, in dem er nicht Künstler war, sondern Ehegatte, Vater, Sohn, Neffe, Freund oder was auch immer. Der Verzicht darauf, seine Nächsten zum Gegenstand seiner Kunst zu machen, zeugt von Respekt ihnen gegenüber - eine Haltung, die heutzutage ein wenig aus der Mode gekommen zu sein scheint.

Entstanden sind die Porträts der zwei Schwestern allesamt in der Walter-Rathenau-Straße, wo Franz Cestnik nach der Heimkehr aus dem Krieg mit der Familie wieder bei seinen Eltern wohnte und dort auch sein Atelier hatte. Das Haus in der Wolperstraße 25 spielte trotzdem eine enorm wichtige Rolle im Leben der Cestniks. Josef, der Vater des Künstlers, wollte 1901 nach einem Grubenunglück in Gelsenkirchen, bei dem sein Vater umgekommen war, nicht als Bergmann arbeiten. Er ging auf Wanderschaft, landete 1910 in Einbeck und fand Arbeit bei der Firma August Stukenbrok.

Dort war auch Georg Lampe beschäftigt. Josef Cestnik freundete sich mit ihm an und lernte seine Schwester Johanne kennen, die er im April 1914 heiratete. Er zog bei den Lampes ein. Dort wurden dann die drei Kinder geboren, Franz, der Jüngste, im Jahr 1921. 1931 zog die Familie Cestnik ins eigene Haus. Weit weg von der Wolperstraße und von den Lampes waren sie dadurch aber nie. Vor allem Tante Minna, die unverheiratet blieb, fühlte sich ihrer jüngeren Schwester in enger familiärer Liebe und Solidarität verbunden und wurde den Cestniks zu einer großen Stütze.

Oft sprang sie ein, sich um den Haushalt zu kümmern, wenn ihre Schwester krank war, was leider öfter vorkam. Die enge Beziehung der beiden Schwestern überdauerte die Zeiten. Als der angehende Künstler Franz Cestnik sie Ende der 40er Jahre zeichnete, waren sie schon weit über 50 Jahre alt. »Wolperstraße« war für Franz Cestnik das Zauberwort, das für ihn Kindheit bedeutete und ihn daran erinnerte, wo seine Wurzeln waren.

Wie wichtig ihm die Familie war und sogar Auswirkungen auf seine Kunst hatte, lässt sich anhand der aktuellen Ausstellung deutlich machen: Die Lampes waren politisch engagiert und als Gewerkschaftler aktiv. Mit bildender Kunst hatten weder sie noch die Cestniks viel am Hut. Aber der junge, bilderhungrige Franz entdeckte in alten Gewerkschaftskalendern im Hause Lampe Reproduktionen von Grafiken der Käthe Kollwitz, deren realistische und sozialkritische Darstellungsweise ihn tief beeindruckte. Obendrein teilte er die Parteinahme der berühmten Künstlerin für die »kleinen Leute«. Ohne die Entdeckung dieser Bilder im Elternhaus seiner Mutter hätten mindestens vier der ausgestellten Porträts wohl anders ausgesehen, so sie denn überhaupt entstanden wären.oh