Franz Cestnik: Stadt am Abend

Ab dem 3. Oktober zeigt die Cestnik-Galerie in der Tiedexer Straße Stadtbilder des Künstlers

Das Bild von 1991 trägt den Titel » Große Straßenszene«

Einbeck. Obwohl Einbeck eine schöne Stadt ist, weil sich so viel von der alten Bausubstanzerhalten hat und sie mannigfaltige pittoreske Motive bietet – Fachwerkhäuser, den Markt mit dem Rathaus und die Kirchen – ist in der Galerie davon nichts zu sehen, wenngleich Cestnik ganz zu Anfang seiner Künstlerkarriere Einbecker Motive gemalt hat, die sich damals gut verkauften.

Einige von ihnen werden sich mit Sicherheit in Haushalten der Stadt bis heute erhalten haben. Diese Stadtansichten entsprachen aber nicht der Kunst, die ihm vorschwebte. Er selbst bezeichnete sie im Rückblick despektierlich als »Bildchens«. Die Stadtbilder, mit denen die Galerie für die aktuelle Ausstellung bestückt wurde, thematisieren nicht die kleine, historisch gewachsene Provinzstadt, sondern sie beschäftigen sich mit der modernen Großstadt.

Das energiegeladene, tosendeLeben in den Metropolen war ein zentrales Thema für die avantgardistischen Maler nach der Jahrhundertwende und in den »Goldenen 20er Jahren«.

Expressionisten wie Ernst Ludwig Kirchner oder Vertreter der Neuen Sachlichkeit wie George Grosz oder Otto Dix zelebrierten damals das Großstadtleben, zeigten seine Hektik und Betriebsamkeit, Glanz und Glamour, nächtliches Amüsement im Kino, im Kabarett und in den Bars, setzten aber auch die Schattenseiten, das Elend des kalten und herzlosen Stadtlebens ins Bild, indem sie beispielsweise verarmte und verlumpte Bettler zeigten oder die Verruchtheit der Großstadt sichtbar machten, vor allem mit den vielen Bildern von Prostituierten oder Kokotten, wie die Berliner sie damals nannten.

Einige der ausgestellten Stadtbilder Cestniks erinnern an diese Bildtradition, vor allem das Ölbild von 1980 (Großstadt) und die fast identische Radierung von 1978 (Nächtliche Straße), die im Amüsierviertel einer Stadt angesiedelt sind. Hier greift Cestnik auch das Dirnen-Thema der Kollegen Dix, Kirchner etc.auf und ist so mit diesen beiden Exponaten thematisch und gestalterisch ganz nah bei den Vorgängern und Vorbildern aus den »roaring twenties«.

Auch das zentrale Bild der neuen Schau, ein Ölbild mit dem Titel »Große Straßenszene« von 1991, weckt sofort Reminiszenzen an die Malerei der 10er und 20er Jahre. Schaut man aber genauer hin, hat es– außer einigen formalen Anklängen, vor allem durch die ähnlich wie bei Kirchner gestalteten, gelängten Körper der Flaneure mit ihrer gesteigerten Rhythmisierung – nicht viel zu tun mit dessen berühmten Berliner Straßenszenen, von denen das Bild mit den Kokotten vom Potsdamer Platz, das in der Berliner Nationalgalerie hängt, wohl das bekannteste ist.

Die Mutter und ihr Kind, die in Cestniks Bild die rechte Bildhälfte füllen, sind eher keine Protagonisten der schrillen und morbiden Großstadtmelodie von damals. Das modisch gestylte Paar in der Bildmitte würde da schon besser hinpassen. Und mit viel Spekulation könnten die beiden Frauengestalten auf der linken Seite des Bildes, auch weil sie nur einen Hund als Begleiter bei sich führen, als Kokotten durchgehen.

Diese Sichtweise wäre aber nur dann stimmig, wenn man in Cestniks Bild auf Teufel komm raus eine Fortschreibung der Verruchtheit des Kirchnerschen Bildentwurfserkennen will, der von Berlin sagte, dass es dort »schrecklich ordinär« zuginge. Cestniks Bild ist aber nicht verrucht, sondern betont andere Seiten des Großstadtlebens: Das Tempo und dieBetriebsamkeit und Rastlosigkeit. Die Hektik und das Durcheinander sind aus der Komposition des Bildes deutlich ablesbar durch die sehr unterschiedlichen, gegenläufigen Bewegungsrichtungen der dargestellten Figuren.Cestnik malt eine belebte Einkaufsstraße, in der sich die konsumgetriebene Gesellschaft von heute drängt und nicht den Boulevard einer der deutschen Großstädte der libertären 20er Jahre, wo der Tanz auf dem Vulkan geprobt wurde.

Wenn Cestnik stilistische Elemente Kirchners aufgreift, dann nicht um ihn nachzuahmen, sondern um durch das Zitieren dieser Malweise seine persönliche Skepsis gegenüber dem Großstadtleben auszudrücken, die er mit Kirchner teilte. Er hätte dem expressionistischen Künstler sicher zugestimmt, der schrieb, dass das moderne Leben »trotz seiner reicheren äußeren Form so oberflächlich ist«.

Als sozialkritische Anmerkung zum Großstadtleben kann man die Radierung mit dem Titel »Kiosk« von 1969 lesen. Bei dem verhärmten Kioskbetreiber, der in seinem beengten Gehäuse seine Ware feilbietet, bleibt nicht viel hängen vom Reichtum, dem Prunk und Überfluss, der andernorts in der Stadt zur Schau gestellt wird. Cestnik greift mit dieser Grafik einen Aspekt auf, der bei Dix und anderen eine große Rolle spielte und sich leider auch in den Städten von heute noch nicht erledigt hat.

In den beiden Ätzradierungen von 1976 (Straße) und 1977 (Ampel), welche die Ausstellung komplettieren, wird eine Sicht auf die Stadt und das Leben in der Stadt zum Thema, das so früher nicht zu erkennen war. Straßen, in denen der Verkehr tobt und die vielen Menschen, die sich im Stadtraum bewegen, weshalb es zu Regulierungen kommen muss, wurden in den 20er Jahren stolz als Zeichen des Fortschritts wahrgenommen.

Die Ampeln in Cestniks Stadtbildern haben dagegen eher etwas Disziplinierendes an sich. Sie sind zwar zum Schutz der Menschen gemacht, schränken die Freiheit der Stadtbewohner aber auch rigide ein. Und dann sind da noch die großen Wohnblocks, besser gesagt die Mietskasernen, die errichtet wurden, um alle Stadtbewohner behausen zu können. So wie Franz Cestnik sie ins Bild setzt, illustrieren sie das Unbehagen an der »Unwirtlichkeit unserer Städte«, die Alexander Mitscherlich in seinem Buch von 1965 kritisierte.

So gesehen ist die so ganz andere Lebensqualitätim beschaulichen Einbeck, in dem es solcher monströser Häuser nicht bedurfte, wegen des kritischen Blicks des Künstlers auf diese Variante der modernen Architektur doch noch präsent in der Ausstellung, auch ohne »Bildchens«. Die Faszination an den 20er Jahren, ein wenig Grusel über die laxe Moral dieser Zeit inclusive, die wir bei Cestnik zu sehen bekommen, hat nicht nur ihn infiziert. Die aktuell in der ARD gezeigte Fernsehserie Babylon Berlin bedient dieses Gefühl ebenfalls – nur eben in einem anderen Medium.oh