Chronologie: Abriss der Neustädter Kirche

St. Mariae erstmals 1264 erwähnt | Mitte der 1950er Jahre wurden schwere Schäden festgestellt

Einbeck. Erstmals erwähnt wird die Neustädter Kirche St. Mariae im Jahr 1264 mit der Nennung des Pfarrers Ludolf. Wie diese romanische Kirche am höchsten Punkt der Neustadt ausgesehen haben mag, ist nicht ganz klar. Grabungen lassen darauf schließen, dass sie bei einer Länge von 29 Metern etwa 25 Meter breit war, so dass man wohl von einer dreischiffigen Kirche mit polygonalem Chor ausgehen kann. Im 15. Jahrhundert wich die alte Kirche einem neuen Bau im gotischen Stil. Von allen Einbecker Kirchen hatte nur St. Marien eine Fensterrose an der Westseite, wie sie als ein Merkmal des gotischen Stils zuerst an den französischen Kathedralen zu sehen war.

Doch der große Brand von 1540 beschädigte die neue Kirche schwer. Der Westteil wurde repariert, aber bis in die siebziger Jahre des 16. Jahrhunderts soll die Kirche kein Dach gehabt haben. Eine Ansicht von 1595 zeigt am Westbau der Kirche einen deutlichen Mauerversatz, der auf noch sichtbare Schäden schließen lässt.

1826 zerstörte wieder ein Großfeuer drei Viertel der Neustädter Gemeinde. Ein zweites Mal wurde die Kirche schwer beschädigt. Als siebenjähriger Junge erlebte der berühmte Einbecker Baumeister Conrad Wilhelm Hase den Brand von 1826 als einschneidendes Erlebnis: »schauten mich die Fenster, die hier und da noch vorhandenen Reste von Vialen und Kreuzblume der Kirchenruine …«.

Bis 1840 war die Kirche ohne Schutz der Witterung ausgesetzt, erst dann wurden insgesamt 25.000 Taler verbaut. Im November 1846 wurde die Kirche wieder eingeweiht, sie diente bis 1896 auch als Garnisonskirche. Während dieser Zeit wurde die Kirche wegen weiterer Bauschäden dreimal restauriert, unter anderem ersetzte man das hölzerne Gewölbe im Mittelschiff durch eine flache Decke. Noch um 1950 plante der damalige Pastor Nolte für die folgenden Jahre eine weitere Renovierung der Kirche. Doch 1955 wurden wieder schwere bauliche Schäden festgestellt. Ein Jahr später wichen die Kirchenwände auseinander, worauf Bodenuntersuchungen erfolgten. Im Frühjahr 1959 erklärten das Stadtbauamt, der Kirchenvorstand und Architekt Schäfer: Einsturzgefahr. Im Juli wurde der Architekt Professor Collorio mit einem Gutachten beauftragt. Noch im August hielten Sachverständige einen Abbruch der Kirche nicht für zwingend notwendig. Im August 1960 erfolgte eine Bauaufnahme der Kirche. Hieraus sind die abgebildeten Zeichnungen entnommen.

Zunächst Plan der Verkleinerung

Im Mai 1961 entstand der Plan, die Kirche auf 290 Plätze zu verkleinern; vorher hatte sie 1.100 Plätze, sie war damit die Kirche, die in Einbeck die meisten Besucher fassen konnte. Im Juni 1960 stand fest: »Der schlimmste Schaden wird durch die verfehlte Konstruktion des Dachstuhls verursacht. Die Holzsäulen, die den Dachstuhl tragen, sind zu schwach und vom Holzwurm angefressen. Ein Abbruch kommt nicht mehr in Frage. Collorio schätzt die Instandsetzungskosten auf etwa 150.000 bis 250.000 Mark.«
Im Mai 1962 vertrat die Landeskirche die Meinung, »daß man an einen Neubau denken müsse, wenn die Kosten 300.000 Mark überschreiten würden. Wegen der Bodenbeschaffenheit sei es nicht ratsam, an der gleichen Stelle einen Neubau zu errichten. Dem Kirchenvorstand wird empfohlen, mit der Stadt Einbeck nach einem geeigneten Bauplatz zu suchen«. Im August änderte Professor Collorio seine Meinung: »Die Standfestigkeit der Kirche ist nicht mehr gegeben.«

11. September 1962: Antrag auf Entwidmung

August 1962: »Die Firma Schramm macht einen Kostenvoranschlag von 550.000 Mark bis 650.000 Mark ohne Kirchendach und Innenausbau – und ohne Garantie. Deshalb wird nun ein Neubau für 400 Plätze angestrebt.« Einen Monat später riet das Landeskirchenamt dem Kirchenvorstand wegen des zu hohen Kostenvoranschlags zum Abbruch: »Es solle auf einer gut vorbereiteten Gemeindeversammlung die Notwendigkeit des Abrisses begründet und gleichzeitig der Bau einer neuen Kirche bekannt gegeben.« Am 11. September 1962 stellte der Kirchenvorstand den Antrag auf Entwidmung. Daraufhin bewilligte die Landeskirche für den Abbruch eine Beihilfe von 180.000 Mark.

Konservator: Chorteil und Sakristei erhalten

Am 23. Oktober stellte sich heraus, dass die »Abbruchfirma Kütemeyer aus Hannover mit vier Mann seit Wochen mit Vorbereitungsarbeiten zum Abbruch in Einbeck tätig ist«. Der Landeskonservator wollte den Chorteil der Kirche und die Sakristei als Ganzes erhalten. Professor Collorio ließ 26 Absteifungsböcke aus 24 mal 24 Zentimeter Schnittholz um die Kirche anbringen, um einen plötzlichen Einsturz der Kirche zu verhindern. Danach wurden ebenso viele Böcke in der Kirche angebracht.

26. Oktober 1962: »Die Erhaltung des Chorraums und der Sakristei würden Mehrkosten von rund 100.000 Mark erfordern, außerdem würde sich der Abbruch um drei Monate verzögern. … Der Landeskonservator will zwei gotische Fenster auf der Nordseite (zur B3 hin) erhalten. Das Sebexsche Epitaph aus dem Jahre … konnte unversehrt geborgen werden, während das Epitaph von Hans Diek aus dem Jahre 1530 bei Ablösung in lauter schieferige Scherben zerfiel.«

Vorarbeiten für Notkirche (Baracke)

20. November 1962: Der Dachreiter sind herabgenommen worden. Auf beiden Seiten waren die Sandsteinplatten in Höhe von 2,50 Meter abgenommen. »Der 1956 eingebaute stählerne Glockenstuhl wird ausgebaut. Die Vorarbeiten für die Notkirche (Baracke) gehen voran. Es besteht die Hoffnung, sie am dritten Advent in Gebrauch nehmen zu können.« Dank eines Zuschusses der Landeskirche wurde die Baracke rechtzeitig fertig: »Sie läßt sich bequem heizen: eine sehr glückliche Lösung!«

Bei der Erhaltung des Chorteils mit der Sakristei zeigten sich erhebliche Ausbeulungen zirka 20 bis 30 Zentimeter nach außen. Collorio wies auf erhebliche Kosten hin, worauf der Kirchenvorstand beantragte, auch den Chorraum abreißen zu dürfen.
Januar 1963: Der Westgiebel am Amtsgericht wurde abgebrochen: Es handelte sich um 100 Kubikmeter, die Arbeit wurde in acht Tagen beendet.

Quader fällt auf Dach der Sakristei

Kurz darauf fand die Diskussion um die Sakristei ihr Ende: »Unvorhergesehenerweise ist ein großer Quader auf das Dach der Sakristei gefallen und hat das Gewölbe beschädigt. Der Wiederaufbau der Sakristei würde rund 60.000 Mark kosten. Die Stadt beabsichtigt, den Kirchplatz als Autoparkplatz zu nutzen. – Mit Rücksicht auf die Kälte sind die Abbrucharbeiten eingestellt. Der Mauerkranz ist ringsum freigelegt und der First der Dachkonstruktion abgetragen.«
1963, 21. März: Der Dachstuhl, die Decke, die Binder und die tragenden (Holz-)Säulen sind entfernt; damit sind die gefährlichsten Arbeiten abgeschlossen. … Die Verhandlungen über einen Bauplatz stecken noch in den Anfängen.
Ende März war das letzte Holz der Dachkonstruktion abgetragen.

Wurmfraß und Holzfäule

Die Bauschäden waren noch wesentlich größer als vermutet: Am gefährlichsten waren der Schaden an der sogenannten Quertraverse durch Wurmfraß und Holzfäule und die Ausbuchtungen an der Mauer des Chorteils. Ein Drittel bis ein Viertel bestand nicht aus Sandstein, sondern aus Lehm und Gips.
Nächster Bauabschnitt war die Abtragung der Mauern auf 2/3 der Höhe. 180.000 Mark wurden bisher für den Abbruch verbraucht.
Als Grundstück für einen Neubau kam der ehemalige 05-Fußballplatz am Sülbecksweg ins Spiel. Die Stadt Einbeck war derweil am Kirchplatz der bisherigen Neustädter Kirche sehr interessiert und plante, dort einen gebührenpflichtigen Parkplatz, einen Kiosk usw. errichten.

Sonnenuhr, Kruzifix und Heiligenfiguren

Für die heutigen Einbecker, die eine ausführliche wissenschaftliche Analyse von Baustellen durch die Archäologie gewöhnt sind, scheint es fast unmöglich, dass damals wesentliche Teile der Innenausstattung und bauplastischen Teile der Kirche verloren gingen. Geblieben sind die Sonnenuhr, das spätgotische Kruzifix und die Heiligenfiguren, die sich seit 1968 in der »neuen« Kirche St. Marien am Sülbecksweg befinden. Für alles andere bleibt nur der Blick auf die historischen Fotografien der Kirche.wk