Der Gesellschaft fehlt es an Zukunftsentwürfen

»Die Ursache liegt in der Zukunft«: Kabarettist Jürgen Becker bei den Förderfreunden | E-Autos gespendet

Diesen Honda Insight ZE 1 spendete Kabarettist Jürgen Becker (links) dem PS.SPEICHER – das Elektrofahrzeug ist eine große Rarität. Die Spende nahmen der Geschäftsführende Vorstand der Förderfreunde, Dr. Günter Diener, Geschäftsführer Lothar Meyer-Mertel und Kurator Andy Schwietzer (von rechts) mit Freude entgegen.

Zwei besondere Elektroautos als Spende und ein kurzweiliger Vormittag: Der Besuch des Kabarettisten Jürgen Becker im PS.SPEICHER beziehungsweise bei den Förderfreunden hat Bleibendes hinterlassen. So bereicherte er die Sammlung um einen Peugeot 106 Electric, das erste E-Auto, das in Großserie gefertigt wurde, und um eine echte Rarität, den ersten Hybrid in Serie, einen Honda Insight ZE 1. Mit seinem Programm »Die Ursache liegt in der Zukunft« zeigte er unter anderem, dass es besser ist, nicht in die Zukunft schauen zu können – ist doch die Gegenwart häufig schon zum Kopfschütteln, Haareraufen oder zum
befreienden Lachen.

Einbeck. Frei nach Wilhelm Busch freue man sich über den Onkel mit den Geschenken mehr als über die Tante, die Klavier spiele, schmunzelte PS.SPEICHER-Geschäftsführer Lothar Meyer-Mertel. Jürgen Becker sei in Einbeck kein Unbekannter und bereits bei den Oldtimer-Tagen mitgefahren. Im Gespräch mit Kurator Andy Schwietzer verriet er, dass er einmal einen Henney Kilowatt fahren wollte, gebaut auf der Basis eines Renault Dauphine. Jürgen Becker sei fasziniert von Elektromobilität, und er sei nicht nur als Kabarettist aus den »Mitternachtsspitzen« bekannt, sondern auch als Motorrad-Kolumnist.

Oldtimer-Szene: »Biotop für Bekloppte«

Mit 15 eine Mobilette, mit 16 eine Zündapp, so hat die Motorradleidenschaft begonnen. Ein für vier Personen zugelassenes MZ-Gespann nutzt er für Interviews. Männer zeigen ihre Spielsachen, so komme ihm die Oldtimer-Szene oft vor, ein Biotop für Bekloppte. Immer R4-Fahrer, habe ihn ein Renault Zoe nach entsprechendem Anlernen begeistert. Er sei viel unterwegs, und so sei er früh auf Elektrofahrzeuge gekommen: Der Peugeot sei Anfang der 90er Jahre ein »richtiges Auto« gewesen. Der Wagen schaffe etwa 80 Kilometer mit einer Batterieladung – als Museumsexponat sei es aber nicht schlimm, wenn er nicht so weit fahre. Die Nickel-Cadmium-Akkus hätten theoretisch eine unbegrenzte Lebensdauer. Eine Seltenheit ist der Honda Insight, im Jahr 2000 in den USA gebaut. Nur 0,8 Prozent der Produktion seien nach Deutschland gekommen, technisch sei er überragend, mit einem guten cw-Wert verbrauche er nur 3,4 Liter. Mit 80 PS laufe er schneller als 180. Der Wagen sei, schwärmte Jürgen Becker, brillant.

Gelernt hat Jürgen Becker Grafischer Zeichner, er war zuständig für die Werbung bei 4711. Später hat er Sozialarbeit studiert, weil ihm die Ausbildung Jugendlicher ein Anliegen war. Über ein kulturpädagogisches Zirkusprojekt, damals eine ganz neue Sache, sei er zum Ansagen gekommen.
Er freue sich, wieder vor Publikum zu spielen – 200 Zuschauer, das sei im Moment die Obergrenze dessen, was man erleben könne. Wenn es um die Finanzierung der Krise gehe, habe sich der berühmteste Ökonom Mario Adorf durchgesetzt: »Ich scheiß euch zu mit meinem Geld.« Und wo das Geld herkomme? Es werde neu gedruckt, aus Sparsamkeitsgründen kleiner und schwarz-weiß.

Umgang mit Zukunft bei Mensch, Bär und Fliege

Dass die Zukunft ungewiss sei, sei ihr Markenkern. Nur Menschen wüssten mit einer Zukunft umzugehen. Eine Lebensversicherung sei für eine Eintagsfliege uninteressant. Andere Tiere wie der Bär planten keine neue Heizung, sondern pennten über den Winter einfach ein paar Monate; in Köln heiße das übrigens Stadtverwaltung. Die Sorge vor Gefahren und Unsicherheit äußere sich in Deutschland unter anderem darin, dass es mehr Lebensversicherungen als Einwohner gebe. Sogar gegen ausgefallene Hochzeiten könne man sich versichern: Dann komme Herr Kaiser von der Hamburg-Mannheimer und ziehe die Hochzeitsnacht durch.

Fokus in schnellem Tempo auf viele Bereiche

Becker stellte Überlegungen zu Familiennamen, zu ihrer Herkunft und künftigen Interpretation an: Name gleich Beruf? Da werde es mal jemanden mit den Nachnamen Praktikum, Leiharbeit oder Backstraße geben. Digitalisierung werde das Leben verändern. Wenn heute Küchengeräte alles könnten, sei das nichts Neues, früher hieß das »Mutti.« Das Internet steuere das Verhalten, und Suchmaschine, Cookies und asoziale Netzwerke wirkten mit: zehnmal FDP gegoogelt, und man bekomme Angebote für Antidepressiva. Wer heute noch ein einfaches Handy habe, müsse als Staatsfeind gelten. Jugendliche verstreuten ihre Daten wie Konfetti. Allerdings sei Deutschland bei schnellem Internet weltweit auf Platz 32.

Bundes- und Weltpolitik, Angela Merkel, die nicht mehr mit der CDU in Verbindung gebracht werde, Trump als egomanisches Riesenbaby mit einem toten Eichhörnchen auf dem Kopf und so viel Versagen hintereinander, wie man es sonst nur von Schalke 04 kenne, Lehren aus Corona, die zeigten, dass der Mensch nicht Teil der Technik, sondern der Natur sei, der Blick aufs durchökonomisierte Leben, in dem man nicht mehr für vier Euro im Monat in den Sportverein, sondern für den zehnfachen Betrag ins Studio geht: Becker richtete den Fokus in schnellem Tempo auf unterschiedliche Dinge, zog humorvolle Schlüsse.

Wachstum sei der Fetisch der Gesellschaft

Nur noch auf Kohle und Gewinne getrimmt: Kein gutes Haar ließ er am aktuellen Gesundheitswesen, an Igel-Leistungen, die kompletter Käse seien, an rektaler Ozontherapie für 600 Euro oder einem Hirnfunktionstest für 800 Euro: Wer da mitmache, bei dem habe er eigentlich keinen Zweck mehr. Fallpauschalen hätten zu englischen – weil blutigen – Entlassungen aus Krankenhäusern geführt, zu mehr Operationen, mehr Spezialisten. Kliniken als Aktienunternehmen sparten an der Pflege, die wichtigsten Berufe würden am schlechtesten bezahlt – eine unglaubliche Schande. Fast 20.000 Menschen würden pro Jahr an Krankenhauskeimen sterben, auch, weil zu wenig Geld für Putzkräfte ausgegeben werde. 240 Milliarden Euro jährlich würden im Gesundheitswesen umgesetzt. Es brauche einen Umbau. Der könne wahr werden, wenn alle es wollten: mit einer Bürgerversicherung, mit vernünftig bezahlten Mitarbeitern und einer Medizin, die den Menschen als Menschen sehe.

In der Gesellschaft fehle es an Zukunftsentwürfen. Man könne und wolle sich keine bessere Welt mehr vorstellen. Dabei seien Utopien der Motor der Entwicklung. Der sich immer schneller drehende Kapitalismus mit dem Kern, dass es sich vor allem rechnen müsse, sei das größte Problem. Leider habe sich nur eine Wissenschaft durchgesetzt, die dümmste von allen: Betriebswirtschaftslehre. Was von Wirtschaftsprüfern zu halten sei, habe das Beispiel Wirecard gezeigt. Wachstum sei der Fetisch der Gesellschaft. Dieser Wachstumsbegriff beruhe auf dem Verbrennen von Kohle und Öl. Die Klimakatastrophe treffe den Kapitalismus ins Mark. Der Umgang erinnere ihn an eine Party in einer Einliegerwohnung mit 100 Leuten. Eine Wirtschaft ohne Wachstum und Raubbau könne man sich nicht vorstellen, deshalb bilde man lieber BWLer aus. Eine Post-Wachstumsgesellschaft würde Menschen von der Autoindustrie in die Diakonie, vom Fließband in den Stuhlkreis bringen. Glück sei vielleicht das, was Harald Juhnke definiert habe: keine Termine und leicht einen am Sitzen.

Als Kölner lag ihm ein Heiligtum am Herzen: Karneval sei sicher, auch in Corona-Zeiten. »Kamelle werden geworfen«, verabschiedete er sich vom begeisterten Publikum.ek