Der Kiefer beeinflusst den Körper

Vortrag bei der Rheuma-Liga über das komplizierte Zusammenspiel von Kiefer und Körper

Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Mit dieser Frage im Bereich der Craniomandibulären Dysfunktion, also dem gestörten Zusammenspiel zwischen Schädel und Unterkiefer, beschäftigten sich die Referenten Udo Jahn und Franks Spoden beim Vortrag der Einbecker Rheuma-Liga. Mehr als 120 Gäste folgten gespannt den anschaulichen Darstellungen der Redner.

Einbeck. Der Vorsitzende der Einbecker Rheuma-Liga, Dr. Michael Okrassa, war überrascht über die große Anzahl der Anwesenden und fragte sich, ob so viele Gäste wegen des interessanten Themas, der jungen, aber qualifizierten Referenten oder des leckeren Essens gekommen seien. Das Thema des Abends, die Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD), sei noch ein junger Bereich in der Medizin und betreffe die strukturellen, funktionellen, biochemischen und psychischen Fehlregulationen der Muskel- oder Kiefergelenkfunktion, die für die Patienten sehr schmerzhaft sein kann.

Udo Jahn, Oberarzt am Lippoldsberger Krankenhaus für Orthopädie und manuelle Medizin, freute sich über den große Zuspruch von Interessenten, die er eher bei einem Vortrag über Hüftprothesen erwartet hätte. Laut Albert Einstein sei »ein Abend, an dem alle einverstanden sind, ein verlorener Abend«, so dass er bei der Diskussion nach Vortragsende auf viele Beiträge hoffte. Er stellt dar, dass bereits 1934 der Hals-, Nasen- und Ohren-Arzt James Brey Costen auf Symptome hinwies, die vom Kiefer ausgingen und die zu Schmerzen in den Ohren, im Kopf und in der Kiefermuskulatur sowie zu Schwindel und Ohrgeräuschen führen könnten. Aus diesem Grund wurde die CMD lange als Costen-Syndrom bezeichnet, während es in der heutigen Zeit über 20 verschiedene Bezeichnungen für die Fehlfunktion gebe.

Jahn, der ebenfalls Mitarbeiter des medizinischen Versorgungszentrums Uslar/Einbeck ist, erklärte, dass der Kiefer und die obere Halswirbelsäule mit einer hohen Anzahl von Wahrnehmungszellen ausgestattet sind. Diese sammeln, verarbeiten und gleichen Informationen über Kopf, Körperhaltung und Muskeltonus ab und berechnen die menschliche Haltung, Motorik und Beweglichkeit. Da der Mensch wie ein ausgeklügelter und leistungsstarker Computer sei, der bei einer Störung falsche Informationen und Werte berechne, könnte es bei CMD zu Schmerzen im Kiefer, in den Ohren sowie im Kopf und Nacken kommen. Ebenfalls könnten Beschwerden wie Ohrengeräusche, Beckenkippungen, Schwindel, psychosomatische Erkrankungen und sogar vegetative Störungen wie Beklemmungen oder Herzrasen entstehen. Seiner Meinung nach sollten sich Ärzte bei der Diagnose viel Zeit lassen, um durch gezielte Untersuchungen den Kern der Dysfunktionen genau lokalisieren zu können. Selbst wenn Mediziner der unterschiedlichen Fachbereiche verschiedene Termini benutzen, müssten sie interdisziplinär wirken, um den Patienten geeignet helfen zu können. Daher sei eine Zusammenarbeit von Ärzten, Therapeuten, Physiologen und Psychologen notwendig.

Dass ein Zahnarzt eine andere Sichtweise auf den Kiefer und die Halswirbelsäule als ein Orthopäde wie John habe, stellte Frank Spoden dar. Der in Kreiensen tätige Zahnarzt beschäftigt sich seit 25 Jahren mit dem Thema CMD. Seiner Aussage nach seien für viele Menschen schöne Zähne die, die weiß glänzen, funktionieren und nicht viel Geld kosten. Unter medizinsicher Betrachtung hingegen sind sie zum Lächeln, Kauen und Beißen da sowie als Werkzeug, Waffe, Führungseinheit, Tastorgan, Störfeld und Entzündungsauslöser. Ein Zahnarzt, ebenso wie ein Orthopäde oder manueller Arzt, könne nicht fundiert in einen Kiefer hineinschauen, so dass Problemstellen nur durch funktionelle Tests herausgefunden werden könnten. Das bewegliche und starke Kiefergelenk erzeuge einen Kaudruck von 80 Kilogramm pro Quadratzentimeter, so dass die Zähne genau aufeinander liegen müssten, um Abschabungen und Abmahlungen zu vermeiden. Fehle ein Zahn, könne es zu Fehlfunktionen und Dysbalancen kommen.

Spoden war fasziniert von der Choreographie des menschlichen »Computers« beim Wechsel von Milch- zu bleibenden Zähnen. Da aber jeder Zahn energetisch und neurologisch mit dem ganzen Körper verbunden sei, könnten schon Fehlstellungen und das nächtliche Knirschen von Zähnen zu körperlichen Beeinträchtigungen führen. Wie bei dem Vergleich zwischen dem Ei und der Henne entstehen Symptome der CMD entweder bei Unregelmäßigkeiten des Kiefers oder bei psychischen, familiären, personellen und arbeitstechnischen Problemen. Die nächtlichen Überprüfungsmechanismen des ZNS sowie die Verarbeitung des am Tage Erlebten könnten zum Schnarchen und Knirschen der Zähne führen. Abgeriebene Stellen beeinträchtigten die Physis enorm, so dass Plastikschienen diesen Prozess aufhalten könnten, bevor Restaurierungen notwendig würden.

Abschließend meinte Orthopäde Jahn, dass seiner Erfahrung nach selbst degenerative Dysfunktionen durch zahnärztliche Kieferbehandlungen positiv beeinflusst würden. Bei der anschließenden Diskussions-Runde gaben beide Referenten anschaulich hilfreiche Tips und Anregungen.mru