Die alte Dame fährt mit Brief und Siegel und TÜV

Benz Victoria des PS.SPEICHERs, Baujahr 1894, ist jetzt das älteste in Deutschland zugelassene Fahrzeug

Karl-Heinz Rehkopf und Gabriele Rehkopf-Adt mit der Benz Victoria: Nach dem Prozedere bei TÜV und Zulassungsstelle ist sie offiziell das älteste in Deutschland zugelassene Fahrzeug. Ihr fester Platz ist in der Ausstellung im PS.SPEICHER, aber zu beson-deren Anlässen wird sie auch gefahren.

Sie darf nun das »Schatzkästchen«, die Vitrine im obersten Stockwerk des PS.SPEICHERs, zu besonderen Anlässen verlassen, denn sie ist das wertvollste Exponat des PS.SPEICHERs. Die Benz Victoria von 1894 ist gestern dazu nicht nur beim TÜV vorgeführt worden, sondern sie hat bei der Zulassungsstelle auch Nummernschilder, Plakette und Siegel erhalten. Sie ist somit das älteste zugelassene Fahrzeug in Deutschland, mit dem Kenn­zeichen EIN – PS 10H.

Einbeck. »Allzeit gute Fahrt!«, gleich mehrfach konnten Stifter Karl-Heinz Rehkopf und Ehefrau Gabriele Rehkopf-Adt, zeitgenössisch gekleidet, diese Wünsche in Empfang nehmen. »Wir fahren heute nicht mit der Kutsche, sondern mit der Motorkutsche.« Damit wurden am Morgen die Glastüren geöffnet, hinter denen die Victoria sonst verwahrt wird, und das »Stehzeug« wurde zum Fahrzeug. Die Benz Victoria ist in der Ausstellung das Beispiel dafür, wie ähnlich Kutsche und Automobil zunächst waren, wie eng die Technik verknüpft war.

Die Benz Victoria Motorkutsche Nummer 99 ist zudem eine Besonderheit, denn in Einbeck befindet sie sich erst in zweiter Hand. Das im Originalzustand erhaltene Automobil wurde von Carl Benz persönlich an den Nähseide-Unternehmer Alexander Gütermann verkauft. Die erste Zulassung erfolgte im Juli 1894. Über vier Generationen blieb es in der Familie, bevor Karl-Heinz Rehkopf es 2009 kaufte. Und man mag es für typisch deutsch halten, denn kaum war das Auto auf der Straße, gab es 1897 schon die erste Verwarnung: über drei Mark für zu schnelles Fahren. Im Gasthof hätten die Gardinen gewackelt. Das Dokument ist erhalten. 6 PS und Spitzentempo von 29 Kilometer/Std.

Das damals kritikwürdige Tempo gilt heute eher als gemächlich: Der sechs PS starke Motor schafft eine Spitzengeschwindigkeit von 29 Kilometern pro Stunde, »was die Technik hergibt«, wie Karl-Heinz Rehkopf lachte. Das reicht aus, um im heutigen Stadtverkehr locker mitzuschwimmen. Bequem, das musste Karl-Heinz Rehkopf einräumen, ist der Wagen nicht. Es ruckelt unterwegs, man wird ordentlich durchgeschüttelt, und an aktuellen Fahrkomfort, etwa eine Klimaanlage, war natürlich nicht zu denken. Verdeck offen oder geschlossen, das waren die Alternativen.

Sprit aus der Apotheker-Flasche

»Gehen Sie bitte sorgfältig mit der alten Dame um, wie mit Ihrer Großmutter«, bat Karl-Heinz Rehkopf die Mitarbeiter, als der Wagen durch die Ausstellung zum Fahrstuhl geschoben und damit nach unten gefahren wurde. Auf dem Hof einsteigen und losfahren, dafür ist die Benz Victoria nicht gebaut. Sie fährt mit AV-Gas beziehungsweise Leichtbenzin (Ligoin), und der Motor braucht eine gewisse Vorlaufzeit.

Den »Sprit« gibt’s, wie weiland bei Bertha Benz, in der Apotheke. Dr. Matthias Quick, Apotheker in der Rats Apotheke Einbeck, schlüpfte für die Ausfahrt in die Rolle des Tankwarts, und Karl-Heinz Rehkopf selbst füllte den Treibstoff aus der typischen braunen Apotheker-Flasche um. Neben etwa 20 Litern Benzin braucht der Motor auf 100 Kilometer mehr als 100 Liter Wasser; was den Auspuff zuweilen in dicken Wolken verlässt, ist kein Anlass zur Besorgnis, es handelt sich nur um Wasserdampf.

Das Fahren ist eine Kunst, es erfordert Fingerspitzengefühl, sind doch Früh- oder Spätzündung und eine magere oder fettere Zusammensetzung des Benzingemischs per Hand zu regeln. Ob’s passt, merken die Passagiere an der Drehzahl. Man muss also nicht nur fahren können, sondern technisches Verständnis ist außerdem erforderlich.

Winkerkelle statt Blinker

Wer auf öffentlichen Straßen fahren will, muss zum TÜV, und da gibt es für die in Ehren er­graute Victoria keine Ausnahme. Vor einigen ­Wochen hat Burkhard Niemietz von der Ein­becker TÜV-Station das Fahrzeug schon einmal durchgesehen und auf dieser Basis ein Gutachten vorbereitet. Einige Kleinigkeiten waren noch nachzubessern – dass das erfolgt ist, davon überzeugte er sich direkt aus der Werkstattgrube heraus: Sowohl der Holzreifen rechts vorn, der ein bisschen zu viel Spiel hatte, wurde korrigiert als auch eine Auffangwanne für die Schmierung installiert.

Ein so altes – und kostbares – Fahrzeug hatte er noch nie zur Untersuchung. Vieles könne man mit heutigen Fahrzeugen nicht vergleichen. Die Bremse sei für heutige Maßstäbe eher schwach, sie reiche aber aus; wegen der fehlenden Beleuchtung habe der Landkreis eine Sondergenehmigung erteilt, und die mitzuführende Winkerkelle ersetzt die Blinker. Gefahren werden darf nur – bei guter Sicht – von Sonnen­auf- bis Sonnenuntergang. Ansonsten gibt es keine Vorschriften, etwa hinsichtlich der Gurte. Zur Bauzeit gab es keine, sie müssen nicht nachgerüstet werden. Für das Gutachten war es von Vorteil, dass es über das Fahrzeug so viele Aufzeichnungen gibt.

Keine Mängel: Nach dem Okay vom TÜV ging es, eskortiert von zwei Motorrädern der Einbecker Polizei, während der Mittags-Rush-hour quer durch Einbeck zur Zulassungsstelle. Dort wartete Landrätin Astrid Klinkert-Kittel persönlich auf die Kunden. Sie habe, verriet sie, Verwaltung von der Pike auf gelernt, und für die Zulassung habe sie noch schnell eine Einweisung erhalten. Alle erforderlichen Papiere wurden vorgelegt, so stand der formalen Zulassung nichts im Wege. Nachdem Mitarbeiterin Silke Reier Fahrzeugbrief und -schein erstellt und gestempelt hatte, ging es eine Etage tiefer.

Dagmar Andres von der Firma Kroschke prägte dort die beiden Nummernschilder, die im Anschluss von der Landrätin in der Zulassungsstelle mit dem Zulassungssiegel des Landkreises Northeim und der TÜV-Plakette – gültig bis April 2021 – versehen wurden. Dieser Termin sei ihr ein besonderes Vergnügen, betonte sie im Gespräch mit dem Ehepaar Rehkopf, das wollte sie sich als Chefin der Kreisverwaltung nicht nehmen lassen. Mit diesem Verwaltungsakt wurde die Benz Victoria offiziell das älteste in Deutschland zugelassene Fahrzeug; bisheriger Spitzenreiter war eine einige Jahre jüngere Benz Velo.

Die Victoria wird natürlich vor allem ein Ausstellungsstück bleiben, darauf setzen die Besucher des PS.SPEICHERs. Aber zu besonderen Anlässen soll die Motorkutsche doch auf die Straße gebracht werden, beispielsweise am 28. Juli beim Korso durch die Innenstadt im Rahmen der Einbecker Oldtimer-Tage.ek