Ein Schatzkästchen der Einbecker Geschichte

»August Stukenbrok. Wirtschaftswunder der wilhelminischen Zeit«: Buch von Wolfgang Kampa und Werner Zänker

Viele Bilder über das Unternehmen, aber auch aus dem Privatleben der Familie enthält das neue ­August-Stukenbrok-Buch von Wolfgang Kampa und Werner Zänker. Es wird am Sonnabend, 31. August, ab 15 Uhr in der Stukenbrokvilla am Ostertor vorgestellt.

Einbeck. Am Anfang stand der Zufall: Werner Zänker wurde vor Jahrzehnten Zeuge, wie Schriftstücke und Unterlagen aus dem Nachlass von Kurt Richter, Prokurist bei der Firma Stukenbrok, entsorgt werden sollten. Der Einbecker erkannte den historischen Wert des vermeintlichen Mülls und stellte sicher, was noch zu bergen war. Er tauchte daraufhin in die Geschichte des Versandhauses und der Unternehmerfamilie Stukenbrok ein, sammelte und schuf ein umfassendes Privatarchiv. Autor Wolfgang Kampa hat für ein Buch alles geordnet, gesichtet und in Textform gebracht. Rund zweieinhalb Jahre haben beide daran gearbeitet – jetzt ist im Isensee Verlag, Oldenburg, »August Stukenbrok. Wirtschaftswunder der wilhelminischen Zeit« erschienen, ein umfassendes Werk über den Einbecker Unternehmer – großformatig, 254 Seiten, mit 565 Abbildungen und ein wahres Schatzkästchen für alle, die sich für Einbecker Geschichte interessieren.

Wolfgang Kampa, langjähriger freier Mitarbeiter der Einbecker Morgenpost und insbesondere der Experte für historische Themen, gibt zunächst eine Einführung zur Fahrradgeschichte und zu den historischen Zusammenhängen in der wilhelminischen Epoche. Christian Ludwig August Stukenbrok wurde am 29. Mai 1867 an der Weser geboren. Ab 1881 absolvierte er eine kaufmännische Ausbildung in Polle, er lernte schnell und war gewissenhaft. Nach einer weiteren Stelle in Greene kam er nach Einbeck: im Mai 1888, sparsam zu Fuß über die Hube. Er nahm im Einbecker Manufakturgeschäft Adolph Fels in der Benser Straße 1 eine Arbeit als Gehilfe an.

Für »Dienstreisen« nutzt er ein neuartiges Verkehrsmittel, das Fahrrad, und er erkannte rasch dessen Potenzial: Am 1. Juni 1890 eröffnete er eine kleine Fahrradhandlung, »Seine Karriere begann buchstäblich wie eine der berühmten Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichten: mit einem einzigen Fahrrad«, schreibt Wolfgang Kampa. Die Geschäftsräume befanden sich in der Marktstraße 42. Nach und nach baute er die Firma aus. Mit einer kleinen Drucksache machte er Werbung für seine »Deutschland«-Fahrräder, und mit diesem Konzept hatte er Erfolg. Schon 1894 gab es den ersten Katalog von »Deutschlands größten Special Fahrrad-Versandgeschäft«. Der Erfolg kam jetzt parallel auf Stukenbrok zu: Zum einen wurden, auch in Einbeck, mehr und mehr Radfahrvereine gegründet, zum anderen wurden Versandhäuser immer beliebter, und beides konnte er bedienen. Nach wenigen Jahren folgte ein zweiter Laden am Marktplatz. Der Durchbruch kam 1896 – das 1.000. Fahrrad wurde verkauft. Der Umzug des stetig wachsenden Unternehmens ASTE – August Stukenbrok Einbeck – ans Ostertor war 1896. 1897 heiratete er Dorothea/Dora »Dörchen« Eicke; 1902 wurde das einzige Kind, Tochter Hertha, geboren.

Der Katalog des Jahres 1900, aufwendig gestaltet im Jugendstil, erreichte eine Auflage von 100.000 Exemplaren – August Stukenbrok hatte es geschafft. Der Text von Wolfgang Kampa wird umfassend ergänzt durch zahlreiche Bilder und Dokumente zur Firmen-, aber auch zur privaten Geschichte der Stukenbroks. Man bekommt Einblicke ins Leben in der Villa am Ostertor und im großen Park, aber auch in die Geschäftsräume und die Geschäftsordnung, an die die Mitarbeiter sich zu halten hatten. »Bete und arbeite«, das Motto hat August Stukenbrok über dem Kamin im prächtigen Foyer seines Hauses festgehalten. Der Leser kann Geschäftspost anschauen, es gibt Fotos von Bestellungen »aus aller Welt«, und besonders interessant ist die Dokumentation des Umzugs 1907/08 in die ehemalige Kaserne beziehungsweise Maschinenbauschule am Ostertor, heute das Neue Rathaus. Ein großer Anbau war notwendig, um dem wachsenden Unternehmen gerecht zu werden. Staunend blättert man Seite um Seite um, um einzutauchen in die Bilder, die diese Zeit dokumentieren in vermutlich einmaligen noch erhaltenen Fotos.

Auch die Villa, ehemals Dr. Eckels, heute Mendelssohn-Musikschule, baute Stukenbrok nach den Bedürfnissen seiner Familie um. Hier wuchs Hertha auf, das »goldene Kind«, wie Wolfgang Kampa schreibt. Privatunterricht, Tiere, alles, was das Herz begehrt, verwöhnt und geliebt: »Prinzessin« wurde sie im Volksmund genannt.

Der Familie ging es gut, sie lebte in Wohlstand und mit Privilegien. Nach verschiedenen Orden 1913 verlieh Kaiser Wilhelm II. August Stukenbrok den Titel eines Kommerzienrats. Der Katalog erreichte eine Millionen-Auflage: Am Vorabend des Ersten Weltkriegs liefen die Geschäfte glänzend. Das Jahr könnte, so der Autor, als Höhepunkt der Unternehmensgeschichte gelten. Im selben Jahr wurde der Stukenbrokpark eingeweiht, ein großes Grundstück zwischen dem Werk und der neuen Post, das Stukenbrok den Bürgern der Stadt Einbeck schenkte mit der Auflage, es nicht zu bebauen.

Im Krieg stellte Stukenbrok teilweise auf Rüstungsgüter um. Im Februar 1916 traf August ein Schicksalsschlag: Ehefrau Dora starb mit nur 41 Jahren.
In den Nachkriegsjahren gab es 1922 die erste Krise, 1926 die zweite. Und ab 1928 wurden Verluste geschrieben. Zugleich wurde Stukenbrok ernsthaft krank. Ob er bei voller Einsatzkraft das Ruder hätte herumreißen können, bleibt Spekulation.

Abteilungsleiter und später Prokurist des Unternehmens war ab 1903 Kurt Richter, zugleich ein enger Freund von Stukenbrok und seiner Familie. Ihm widmet sich das Buch intensiv, und aus seiner Korrespondenz geht ausführlich hervor, welchen Verlauf die Geschäftsentwicklung nahm. Die gesamte Fahrradindustrie geriet Ende der 20er Jahre in eine Schieflage, und Stukenbrok bildete da keine Ausnahme. Erste Kündigungen wurden ausgesprochen. August Stukenbrok erlebte den Niedergang nicht mehr: Er starb am 4. Januar 1930 in seiner Villa am Ostertor im 63. Lebensjahr nach langer Krankheit.

Fortan übernahm die 27-jährige Hertha das Unternehmen, wobei unklar ist, inwieweit sie dazu ausgebildet war. Sie trennte sich – rückdatiert auf Oktober 1929 – von Kurt Richter. In den folgenden Monaten brachen die Geschäfte ein – soweit, dass sich Bürgermeister Oehlmann in einem Brief an Hertha wandte, und auf die fehlenden Bilanz-Zahlen hinwies. Um fällige Gehaltszahlungen für Kurt Richter gab es sogar einen Gerichtstermin.

Der letzte Katalog erschien 1931. Zum Jahresbeginn war die Situation schon verfahren: Hertha Stukenbrok und Bürgermeister Oehlmann pflegten eine misslungene Kommunikation. Mitte des Jahres schwankte man zwischen Weiterführung, Vergleichs- oder Konkursverfahren. Eine illegale Firmengründung in Hannover, eine Gläubigerversammlung und sogar Verhaftungen, schließlich die Kündigung von 180 Beschäftigten: Bis Ende Juni entwickelte sich die Lage dramatisch. Bereits im Juli wurde ein Vergleichsverfahren eröffnet, im August erfolgte die Liquidation. Hertha Stukenbrok war entmachtet – und pleite.
Eine Versteigerung des Unternehmens-Vermögens war für Ende September angesetzt. »Keine zwei Jahre nach dem Tod des Firmengründers hatte sich das gesamte Lebenswerk von August Stukenbrok in nichts aufgelöst«, schreibt Kampa: Diese Ära war Geschichte.

Bürgermeister Oehlmann war gezwungen, Stellung zu nehmen, inwieweit die Stadt alles für den Erhalt getan habe. Ursache des Untergangs sei die allgemeine Wirtschaftskrise ebenso wie schlechtes Wirtschaften, hieß es.

Kurt Richter verstarb im Januar 1933 mit 51 Jahren. Hertha Stukenbrok heiratete im April 1936 einen Oberst der Luftwaffe. Sie starb im August 1945 an einer Lungenkrankheit mit nur 43 Jahren.

Eingebettet in viel Zeitgeschichtliches, beschreibt der Autor, wie es mit dem Werksgebäude und mit der Fahrradproduktion in Einbeck weiter ging. Viel Informatives und viel Sehenswertes – und was es bei Stukenbrok nicht alles zu kaufen beziehungsweise bestellen gab! – machen das Buch zu einem großen Vergnügen, zum Lesen, zum Blättern, zum Nachschlagen.ek