Maispaziergang 1935 in einem Wintermantel

Einbeck. Aus einer Mini-Serie stammt dieses kleinformatige Foto mit den Original-Maßen von fünf mal 5,5 Zentimetern. Auf der Rückseite ist auf jedem Foto das Datum vermerkt: Der Spaziergang vom Marktplatz zum Offiziersgarten fand am Dienstag, 21. Mai 1935, statt. Auf dem Foto sieht man zwei Frauen – vielleicht Mutter und Großmutter – mit vier Kindern vor dem Einbecker Rathaus. Das Jüngste sitzt im Kinderwagen flankiert von seinen Schwestern mit Schleifen im Haar. Rechts steht anscheinend der älteste Sohn der Familie.

War es der Familienvater mit seiner Kamera, der die Schnappschüsse machte? Die Temperaturen waren an diesem Tag trotz der Jahreszeit winterlich. Schaut man in die Wetteraufzeichnungen für diesen Zeitraum, so er­fährt man, dass am 19. Mai 1935 das erste Mal seit fast 1.000 Jahren in Paris Schnee gefallen war. Der 2. Mai 1935 war in München mehr als drei Grad Minus der 5.-kälteste Tag, seit es Wetterauf­zeichnungen gibt. Eine Meldung vom 19. Mai 1935 spricht von »winterlichem Wetter«. Insgesamt war der Mai 1935 mit fast zwei Grad weniger als der Durchschnitt deutlich zu kalt.

Alle sechs Personen auf dem Foto – sogar der Junge im Kinderwagen – blicken aufmerksam in Richtung Marktplatz. Was dort zu sehen ist, bleibt genauso wie die Frage nach den Namen der Personen unbekannt. Wahrscheinlich wird sich das auch nach so langer Zeit nicht mehr klären lassen: Die Kinder müssten jetzt zwischen 77 und 87 Jahre alt sein. Am Tag, als diese Fotos gemacht wurden, fand im großen Saal des Gasthauses zur Traube ein Gemeinschaftsempfang »für alle Volksgenossen« statt.

Anlass war eine Rede von Adolf Hitler, in der er in 13 Punkten Deutschlands Einstellung zu Fragen der internationalen Politik darstellte und den »Friedenswillen« seiner Regierung betonte: »… ich halte es mit meinem Verantwortungsgefühl als Führer der Nation und als Kanzler des Reiches unvereinbar, auch nur einen Zweifel über die Möglichkeit der Aufrecht­erhaltung des Friedens auszusprechen«. Genau das Gegenteil hatte er im Sinn. Der Hinweis »für alle Volksgenossen« zeugt von der seit 1933 vorherrschenden Judenfeindlichkeit.

Wurden die jüdischen Mitbürger bisher als Gemeinschaft diffamiert, so wurden im Laufe des Jahres 1935 Hetzkampagnen gegen einzelne Personen durchgeführt. Als das Foto entstand, waren kurz zuvor zwei jüdische Geschäfte geschlossen worden und die Hetze hatte mit dem Freitod des Bankiers Alfred Kayser das erste Todesopfer gefunden. Er »konnte es nicht mehr ertragen, ein Leben unter den gegenwärtigen Umständen weiterzuführen«.wk