Mit dem Kopf und mit dem Herzen stolpern

Erste Stolpersteine in Einbeck verlegt: Erinnerungen wachhalten, Mahnung sein | Nachfahren Verfolgter dabei

Die Vergangenheit in Erinnerung behalten und Mahnung für jetzige und künftige Generationen sein: In Einbeck wurden jetzt die ersten 15 Stolpersteine verlegt. Der Kölner Projektkünstler Gunter Demnig hat die zehn mal zehn Zentimeter großen Steine, versehen mit Messingtafeln mit Namen und Lebensdaten, vor vier Häusern in der Einbecker Innenstadt installiert.

Einbeck. Für den Initiativkreis Stolpersteine für Einbeck, eine Arbeitsgruppe des Fördervereins Alte Synagoge, konnte Robert Stafflage eine große Zahl von Bürgern vor dem Haus Bürgermeisterwall 6 willkommen heißen. »Mit dieser Gedenkfeier verneigen wir uns vor allen verfolgten, vertriebenen deportierten und ermordeten Opfern des Nationalsozialismus, die mit uns in dieser Stadt gelebt haben und die unsere Nachbarn waren«, sagte er.

Besonders hieß er Initiator Gunter Demnig willkommen, der seit 1997 fast 50.000 Stolpersteine an bisher 1.300 Orten verlegt und dadurch eine einmalige Erinnerung an das Schicksal dieser Menschen geschaffen habe. Weitere Gäste waren 17 Angehörige der Opferfamilie Adler, die zum Teil in langen Anreisen aus den USA, aus Holland, Italien und Deutschland gekommen waren, um bei der Verlegung dabei zu sein. Ihre Teilnahme gebe der Feier große Bedeutung und hohe Glaubwürdigkeit. Der Initiativkreis habe das Ziel, für jedes einzelne dramatische Schicksal hier – man gehe von 68 jüdischen Opfern aus und recherchiere noch weitere Opfergruppen – diese schlimme Vergangenheit vor Ort in Erinnerung zu rufen und als Mahnung an jetzige und künftige Generationen zu erhalten.

Es sei bis heute unfassbar, dass das nationalsozialistische Deutschland gegen alle humanistischen und ethischen Regeln der Menschheit so tief abstürzen konnte und für die Ermordnung von sechs Millionen Juden, für die Tötung weiterer Menschen, unter anderem von Behinderten, und für bis zu 70 Millionen Kriegstote verantwortlich sei. Deutschland sei einmal als Land der Dichter und Denker bezeichnet worden – wer sich mit der Geschichte des Landes befasse, für den sei der Nazi-Terror wahrscheinlich das größte Verbrechen der Weltgeschichte. Zwar trage die heutige Generation keine direkte Schuld an diesen Verbrechen. Als Erbe sei man aber in der moralischen und ethischen Pflicht, die Erinnerung nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Der Initiativkreis plane die Verlegung von 65 bis 70 Stolpersteinen, alle aus Spendengeldern finanziert. Man sei sich bewusst, dass es auch kri - tische Stimmen geben könne.

Das nehme man aber in Kauf. Stolpersteine seien kein Hindernis, über das man fallen könne, sondern zum Lesen der Messingtafeln verbeuge man sich: »Wir sollten hierbei mit dem Kopf und mit dem Herzen stolpern«, so Stafflage, der zudem der Verwaltung und dem Kommunalen Bauhof für die Unterstützung dankte. Bürgermeisterin Dr. Sabine Michalek hob hervor, dass es eine große Ehre sei, dass Familie Adler dabei sei. Die Aktion sei von Beginn an positiv begleitet worden, viele Spender konnten gewonnen werden, viele gesellschaftliche Gruppen seien eingebunden. Die große Resonanz von Jung und Alt zeige die breite Akzeptanz. Geschichte werde somit nah und persönlich. Sie hoffe, dass die Aktion eine Fortsetzung finde, um an Unrecht zu erinnern und die Mahnung wachzuhalten. Trotz wachsender zeitlicher Distanz sei dies ein Beitrag, um die Opfer nicht in Vergessenheit und Anonymität geraten zu lassen. Am Bürgermeisterwall 6 wurden sechs Stolpersteine für Julius Stern, Flora Fanny Stern, Renate Stern, Heinz Rudolf Stern, Hermann Strauss und Bertha Strauss verlegt. In der Altendorfer Straße 27 erinnern sechs Stolpersteine an Rudolf Adler, Berta Adler, Margot Adler, Edith Adler, Kurt Adler und Tamara Adler.

Ein Stolperstein für Martin Cohn ist in der Maschenstraße 5 verlegt worden, und in der Tiedexer Straße 5 gibt es zwei Stolpersteine für Bertha Archenhold und Elsa Archenhold. In der Altendorfer Straße betonte David Adler, der Sohn des 2002 in den USA verstorbenen Kurt Adler, dass die Steine wichtig seien für die Gemeinschaft, aber auch für seine Familie: »Wir haben und wir werden sie nicht vergessen.« Von einem besonderen Moment sprach seine Schwester Naomi. Man könne den Verstorbenen nun sagen, dass sie nicht vergessen seien und dass ihr Leben nicht vergebens gewesen sei.

Die Not von Vater und Tante, die 1939 in die USA geschickt wurden, sei so groß gewesen, dass sie nie über ihre Jugend in Einbeck gesprochen hätten. Nur kurze Antworten habe es zur Familie gegeben: Sie sei im Krieg gestorben. 1971 war Kurt Adler mit seiner Familie erstmals in Deutschland, doch die Erinnerung war so schmerzlich, dass er schnell wieder fort wollte. Seit Ende der 80er Jahre verstarb die Generation der direkt an den Nazi-Verbrechen Beteiligten, die Gesellschaft stellte sich sozialer Verantwortung und zeigte Verständnis, und sie bekundete Wachsamkeit, dass so etwas nicht noch einmal passieren sollte.

Die Stolpersteine machten es möglich, sich zu erinnern und an den Schmerz zu denken, den Eltern, Tanten, Großeltern und andere Verwandte erlebt hätten. Man könne die Geschichte ihres Lebens erzählen und ihrem Leiden Bedeutung geben. Die Adler-Vorfahren waren seit 1867 in Einbeck ansässig, aber nur wenig wisse man über sie. Es gebe Bilder von Ausflügen in den Wald oder von der Beeren-Ernte, aus der Marmelade gekocht wurde. Sie hielten sich für gute deutsche Bürger, bis die Nationalsozialisten sie bedrohten und verfolgten. Erst 1947 hätten Kurt und Tamara Adler mehr über ihre Familie erfahren. »Heute wissen wir viel mehr als sie damals«, so die Familie, und man sei dankbar für die Forschungen, etwa von Susanne Gerdes und Dr. Elke Heege. Es bleibe der Eindruck an ein glückliches Familienleben, für das auch das Haus in der Altendorfer Straße stehe. Gemeinsam sprach die Familie das traditionelle Totengebet, das Kaddish und ein Gedicht, das an die Verstorbenen erinnere, zu jeder Zeit: »Wir denken an sie. Solange sie leben, werden wir leben. Sie sind ein Teil von uns, solange wir uns an sie erinnern.« »Mit einem kleinen Schritt wie diesem können wir die Welt ein bisschen besser machen«, war David Adler überzeugt.

Neben der Familie Adler haben Dr. Florian Schröder, Inge Hüttig und Ulrich Hoppe die Biografien derjenigen gelesen, zu deren Ehre und Erinnerung die Stolpersteine verlegt wurden. Mit Gesprächen und Klezmer-Musik endete die Feierstunde im Alten Rathaus.ek