Mit guten ÖPNV-Lösungen Bürger begeistern

Auftaktveranstaltung zu »Match-up«: Landkreis einziger deutscher Partner | »Sauber, sozial gerecht, vernetzt«

Der Landesbeauftragte beim Amt für regionale Landesentwicklung Braunschweig, Matthias Wunderling-Weilbier, gratulierte dem Landkreis Northeim, der als einziger deutscher Partner beim »Match-up«-Projekt dabei ist, bei der Auftaktveranstaltung.

Region. Es klingt kompliziert: Multimodale Mobiliätsstrategien in die Politininstrumente der Projektpartner integrieren, um CO2-arme Verkehrsmittel gegenüber dem motorisierten Individualverkehr wettbewerbsfähiger und alltagstauglicher zu machen, das ist das übergeordnete Ziel von »Match-up«, einem auf die nächsten viereinhalb Jahre angelegten Programm zum Erfahrungsaustausch auf europäischer und regionaler Ebene. Der Landkreis Northeim ist dabei der einzige Partner in Deutschland; weiter sind Irland, Portugal und Rumänien dabei sowie federführend die Universität im italienischen Bologna. Eine Auftaktveranstaltung hat dazu jetzt stattgefunden.

Der Erfahrungsaustausch soll Entscheidungsträger befähigen, neue Vorhaben mit dem Ziel einer nachhaltigen Mobilität voranzubringen. Wie das aussehen kann, ist ebenso besprochen worden wie Grundsätzliches zur Zukunft der Mobilität, die man, so Referent Professor Dr. Andreas Knie, komplett anders denken müsse.

Mobilität sei ein Kernthema der Zeit, stellte Landrätin Astrid Klinkert-Kittel fest. Im Rahmen von »Match-up« werde untersucht, wie man Reiseverhalten effizienter und klimafreundlicher gestalten könne, denn 95 Prozent des CO2-Ausstoßes kämen aus dem Straßenverkehr. Hier eine Lösung für bezahlbaren und gut vernetzten Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu finden, sei für Ältere, die nicht mehr selbst fahren würden, ebenso interessant wie für Jüngere, die auf den Transport zur Berufsschule und zum Betrieb angewiesen seien.  Wie man ÖPNV gestalten könne, dazu gebe es schon einige Projekte, die sich speziell mit Mobilität im ländlichen Raum beschäftigten. Umweltfreundliche Verkehrsmittel wie E-Bikes sollte man stärker in Anspruch nehmen, und auch E-Carsharing sei ein Thema, dies seien Inhalte von »Match-up«. Um die Ziele zu er­reichen, benötige man starke Unterstützung.
Einbeck sei eine Flächenstadt mit 231 Quadratkilometern, mit einer Kernstadt und 46 Ortschaften, da sei Mobilität ein spannendes Thema, betonte Bürgermeisterin Dr. Sabine Michalek. Der ÖPNV sei in vielen Bereichen vom Schülerverkehr geprägt, und das sorge für erschwerte Bedingungen, beispielsweise, wenn die Menschen älter würden und trotzdem gesellschaftliche Teilhabe wünschten, aber auch, wenn sie zur Arbeit fahren müssten. Für den ländlichen Raum sei die Herausforderung völlig andere als in Ballungsräumen. Der Wunsch sei, dass man mit dem ÖPNV individuell und bequem unterwegs sein könne, vernetzt, bezahlbar und getaktet. Einbeck habe Klimaschutz als Querschnittsthema in der Ver­waltung. Das umfasse umweltfreundliche Dienstfahrzeuge ebenso wie das Mobilitätskonzept. Die Reaktivierung der Bahnstrecke zwischen Einbeck und Salzderhelden werde Auswirkungen auf die Kernstadt und die Region haben. Dazu gehöre auf städtischer Seite die Bereitstellung von Infrastruktur. Ganzheitliches Denken sei gefragt. Als positives Beispiel nannte sie Südtirol. Ein gutes Angebot koste Geld, aber es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und wenn sie gut gelöst werde, könne man die Menschen dafür begeistern.

Der Landesbeauftragte beim Amt für regionale Landesentwicklung Braunschweig, Matthias Wunderling-Weilbier, bestätigte, dass Mobilität Grundvoraussetzung für Teilhabe und Daseinsvorsorge sei. Einiges sei da auf den Weg gebracht, auch die Reaktivierung der Bahnstrecke. Man müsse das Rad nicht neu erfinden, wenn man gemeinsam daran arbeite, besser zu werden. Das sei ein Thema für Inter Reg beziehungsweise »Match-up«. Er gratulierte dem Landkreis, der sich bei dieser Sache mit einer schwierigen Fördersystematik auseinandergesetzt, aber Erfolg gehabt habe.

Gute Lösungen und Konzepte sollen betrachtet und ausgewertet, Ansätze in einem nationalen Aktionsplan festgehalten werden. Das führten Projektleiterin Britta Schmigotzki und Stefanie Thomuscheit, Fachbereich Mobilität und Wirtschaftsförderung beim Landkreis Northeim, aus.

Über »Die Zukunft der Mobilität« referierte Professor Dr. Andreas Knie, Mobilitätsforscher am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin. »Demonstrativer Besitz oder digital vernetzt?« lautete seine Fragestellung. »Respekt vor Ihrem Projekt, aber es wird nicht klappen«, so seine provokante Eingangsthese. Der Zug sei längst in die andere Richtung gefahren, und er komme nicht zurück. »Man darf nicht zuviel Fortschritt wollen«, warnte er. Es gebe zu viele Autos, und meistens hätten sie den falschen Antrieb. Die Zahl je 1.000 Einwohner sei inzwischen auf 785 gestiegen; jeder, der fahren könne, habe statistisch zwei Autos. 63 Prozent der Fläche in Deutschland seien »Land«, aber selbst in kleinen Dörfern habe man inzwischen Phänomene wie Stau. In Deutschland gebe es 47 Millionen Pkw, Tendenz steigend, von einer Verkehrswende keine Spur. Angesichts eines deutlich gestiegenen CO2-Ausstoßes seien die Klimaziele unrealistisch.

Das Auto sei nicht in der DNA der Deutschen angelegt, bis 1960 dies kein Auto-, sondern Eisenbahnland gewesen, erläuterte der Wissenschaftler. Der Verkehr sei ein herbeiorganisierter Zustand. In den nach dem Krieg zergliederten Städten sei das Auto ein wichtiges Verkehrsmittel geworden. 1953 wurden alle Geschwindigkeitsbegrenzungen aufgehoben. Ab 1957 habe es finanzielle Vergünstigungen gegeben. Das betreffe den Diesel ebenso wie E-Mobilität oder das Dienstwagenprivileg. Die Popularisierung des Autos sei mit 48 Gesetzen unterstützt worden, von denen alle noch wirksam seien. »Wie soll sich da was mit Wende ergeben?«, fragte er. Die Nutzung von Carsharing sei fast nicht messbar.

Noch erfolgreicher als das Auto sei nur das Smartphone. Grundbedürfnisse der Versorgung seien Gas, Wasser, Strom – das Auto sei austauschbar. »Und vergessen Sie eine Welt ohne Smartphone«. Dass ein Geist wie der von Uber aus der Flasche gelassen werde, davor stehe nur das Personenbeförderungsgesetz von 1934. ÖPNV sei immer für Arme oder Alte gewesen, für Menschen, die keine Autos fahren durften. Gegen diese Konstruktion aufzubegehren und eine Wende zu fordern, sei vergebliche Liebesmüh. Keine Bahn und kein Bus werde an jeder Milchkanne halten. Der ÖPNV werde es nie schaffen, die Attraktivität eines privaten Autos nachzubilden, jedenfalls nicht in den vorhandenen Strukturen.

Vielmehr müsse man das Thema angehen mit der Frage, ob jeder ein Auto haben müsse, zudem mit Verbrennungsmotor. Man müsse einen ÖPNV denken, der vom Kopf auf die Füße gestellt werde und es ermögliche, von A nach B zu fahren, sauber, sozial gerecht, digital vernetzt, mit einem Auto, etwa über Sharing. 94 Prozent der Zeit stehe ein Auto, und 80 Prozent der Fahrten machten weniger als fünf ­Kilometer aus. Einen Bereitstellungsreservice brauche man nicht, und das, was man habe, könne mehr Menschen befördern. Auch hier werde es durch die digitale Welt Veränderungen geben. Ändern müssten sich Gesetze, die heute nicht mehr gefragt seien.

Der ÖPNV, so sein Appell, müsse Kunden gewinnen, aber das mache er derzeit nicht. Das Eigentum an Verkehrsmitteln, »mein Auto«, halte er für nicht wichtig. Vielmehr gehe es darum, Systeme wie Carsharing zu modernisieren. Der öffentliche Raum, der zum Parken genutzt werden könne, sollte vollständig bewirtschaftet werden. Hier schlug er eine Gebühr von zehn Euro pro Tag vor. Sharing-Fahrzeuge dagegen wären frei oder kosteten die Hälfte. So könne Platz für sinnvollere Nutzungen wie Rad- und Fußwege sowie Stell­flächen für Carsharing-Fahrzeuge geschaffen werden.

Weiter ging es um die Rolle des ZVSN im »Match-up«-Prozess, was Geschäftsführer Michael Frömming beleuchtete, und es gab Praxisbeispiele aus dem Landkreis: zum Eco-Bus, zur »Einbecker Nachteule«, zum Dorfbus Bodenfelde und zur Reaktivierung der Ilmebahn. Wichtig sei es, so die Diskussion, nicht nur die Dienstleistungen zu erbringen, sondern sie auch »unter die Leute« zu bringen. Viele Angebote würden nicht sofort im erwarteten Umfang genutzt – wichtig sei es aber, dass sie bereitgestellt würden.ek