Pflege- und Adoptivkinder geben manchmal Rätsel auf

Hilfreicher Austausch für die Familien ist über die Vereine »Pfad« und FASD-Südniedersachsen möglich / Beratung vor Ort

Die Kinder können unruhig und sozial auffällig sein, aber auch freundlich und anhänglich, gutmütig. Man sieht ihnen, besonders in jüngeren Jahren, häufig an, dass sie unter einer besonderen Beeinträchtigung leiden, verursacht durch ihre Mütter, die in der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben. »FAS, das fetale Alkoholsyndrom, ist die häufigste nicht genetisch bedingte geistige Behinderung, aber sie ist zu 100 Prozent vermeidbar«, weiß Irm Wills. Die Einbeckerin ist zweite Vorsitzende des bundesweit tätigen Vereins FASworld, der sich mit den Problemen dieser Kinder beschäftigt, die häufig in Adoption- und Pflegefamilien aufwachsen. Sie ist auch Vorsitzende des Pflege- und Adoptivfamilienvereins Südniedersachsen, eine enge und sinnvolle Verzahnung.

Einbeck. Der Pflege- und Adoptivfamilienverein »Pfad für Kinder« wurde 1989 in Göttingen gegründet als Anlaufstelle für Pflege- und Adoptivfamilien aus der Region. Die Gruppe hat mehr als 40 Mitgliedsfamilien, sie dient dem Erfahrungs- und Meinungsaustausch und wendet sich an die Öffentlichkeit. Bei Frühstückstreffen, Fortbildungen, Familienfreizeiten, Sommerfesten oder gemeinsamen Ausflügen lernen sich die Familien kennen.

»Wir wollen aus dem Nest gefallene Kinder aufnehmen und den Küken Nestwärme geben, bis sie flügge werden«, so ein bildhaftes Ziel des Vereins. Dass die »neuen« Eltern oft wenig wissen über die Vorgeschichte des Kindes, belastet und macht das Familienleben manchmal schwierig. Sie werden zudem konfrontiert mit ungebetenen Erziehungstipps ihrer Umwelt und den eigenen hohen Ansprüchen, die Defizite auszugleichen, die das Kind früher erlitten hat.

Die Vorsitzende von »Pfad für Kinder« ist Irm Wills, zugleich stellvertretende Vorsitzende von KIAP, der Bundesarbeitsgemeinschaft für Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien. Der Verein hat es sich zum Ziel gesetzt, die Interessen der Adoptiv- und Pflegekinder und ihrer Familien,  insbesondere auch auf politischer Ebene, zu vertreten, das Adoptiv- und Pflegekinderwesen zu fördern, die Vernetzung und Verbundsysteme von Trägern, die im Adoptiv- und Pflegekinderwesen tätig sind, zu unterstützen sowie innovative Arbeit zu betreiben.

In Beratungsgesprächen mit Pflege- und Adoptiveltern trifft die Vorsitzende häufig auf dieselben Probleme: Die Kinder leiden unter Beeinträchtigungen und Auffälligkeiten, deren Herkunft unklar ist und die die Eltern an den Rand der Verzweiflung bringen. Möglicherweise leiden die Kinder unter FAS, die Ursache dafür liegt in der Schwangerschaft: Wenn eine Schwangere Alkohol trinkt, trinkt das Ungeborene über die Nabelschnur direkt mit. In entscheidenden Entwicklungsstadien des Kindes können so schwere Schäden auftreten an Organen und dem zentralen Nervensystem.Äußerliche Merkmale für FAS sind beispielsweise eine Stupsnase, tiefer liegende Ohren, ein gekrümmter kleiner Finger, Hautfalten am inneren Augenwinkel, eine flachere Rinne zwischen Nase und Mund (Philtrum), eine schmale Oberlippe und Haaraufstriche im Nacken. Gerade das Gehirn wird überproportional geschädigt. Bilden sich auch die äußerlich auffälligen Merkmale des Kindes mit zunehmendem Alter zurück, so bleiben doch die psychischen Schäden. An FAS Erkrankte haben in der Regel vielfältige mentale Defizite. Intellekt, Gedächtnis und Konzentration sind bei den Kindern weniger gut ausgebildet als bei Altersgenossen. Sie lernen langsamer, vergessen Gelerntes wieder, lassen sich leicht ablenken. Sie leiden unter Entwicklungs-, Sprach- und Hörstörungen, weisen Verhaltensauffälligkeiten auf, der Schlaf-Wach-Rhythmus ist gestört. Sie können aggressiv oder hyperaktiv sein. Oft stellen Ärzte auf dieser Basis dann nur die Diagnose ADHS. Alle genannten Symptome können auftreten – sie müssen es aber nicht, wobei ADHS fast immer vorliegt.

Viele FAS-Kinder wachsen in Pflege- und Adoptivfamilien auf. FAS ist wenig bekannt, die Diagnose mitunter schwierig, zumal dann, wenn die Pflegefamilie wenig über die leibliche Mutter des Kindes weiß. Häufig kennen die Pflege- und Adoptivfamilien nicht die Ursachen der Schädigungen, sie stellen lediglich fest, dass das Kind schlechter lernt, dass der Umgang mit ihm schwierig ist, dass es beispielsweise kein Gefahrenbewusstsein hat, dass es aber auch eine naive Freundlichkeit zeigt, die häufig ausgenutzt wird. Dabei ist es wichtig, dass die (Pflege-/Adoptiv-) Eltern auf das Kind und seine Bedürfnisse eingehen können: Es benötigt klare Strukturen im Alltag, eine stressfreie Umgebung, Erinnerung und Kontrolle auch bei einfachen Abläufen, einfache Anweisungen. Alltagsverrichtungen sollten ritualisiert werden. Die Eltern müssen die Grenzen kennen, die FAS der Entwicklung setzt, sie müssen aber zunächst überhaupt erst einmal wissen, dass das Kind an FAS leidet. Das herauszufinden, berichtet Irm Wills aus ihrer Arbeit, sei mitunter ein langer Weg, zumal es in Deutschland nur wenig Ärzte gebe, die sich auf dieses Thema spezialisiert hätten.

Medikamente und Therapien können einige Probleme behandeln oder abschwächen, die Krankheit selbst ist nicht heilbar. »Alkohol ist das schlimmste Gift für ungeborene Kinder«, warnt die Vorsitzende von FASworld, denn es gibt kaum Wege, wie den Betroffenen dauerhaft geholfen werden kann. Dabei kommt diese Erkrankung doppelt so häufig vor wie etwa das Down-Syndrom. Rund 4.000 Kinder kommen in Deutschland pro Jahr mit FAS in voller Ausprägung zur Welt, etwa 10.000 Kinder weisen Schädigungen im psychosozialen/emotionalen Bereich auf mit stark herausforderndem Verhalten. »Schon ein paar Schluck Alkohol in der Schwangerschaft können lebenslange Folgen haben«, weist Irm Wills auf die Gefahren hin. »Allerdings: Durch absoluten Alkoholverzicht in der Schwangerschaft ist FAS 100-prozentig vermeidbar.«

Der Verein FASworld mit der regionalen Selbsthilfegruppe FASD-Südniedersachsen möchte den Erfahrungsaustausch unter den Familien fördern. Treffen finden in Göttingen beziehungsweise nach Absprache auch an anderen Orten statt. Regelmäßig am ersten Donnerstag im Monat hält Irm Wills von 16 bis 18 Uhr Sprechstunden im Einbecker Kinder- und Familienservicebüro (EinKiFaBü), Hallenplan 9, ab. Kontaktmöglichkeiten bestehen hier direkt, außerdem unter Telefon 05561/982867.ek