Schuppenwurz ohne Fotosynthese

Im Frühlingswald zu entdecken / Fleischiger Wurzelstock unter der Erde

Fotosynthese? Nein danke! Diese für Pflanzen eher ungewöhnliche Einstellung stammt von einer Pflanzenart, die jetzt im lichtdurchfluteten Frühlingswald ihre zartrosafarbenen, rund 15 Zentimeter hohen Blütenstände aus dem Waldboden schiebt: die Rötliche Schuppenwurz. Man muss schon genau hinsehen, um sie inmitten eines Bärlauchblätterteppichs, umgeben von gelben Windröschen, Buschwindröschen, Waldveilchen und der Frühlingsplatterbse, zu entdecken.

Einbeck. Die Blütenstände sind sozusagen die »Spitze eines Eisberges«, denn der Hauptteil der Pflanze, der fleischige Wurzelstock (Rhizom) mit schuppigen, elfenbeinweißen Blättern, liegt verborgen unter der Erde und kann bis zu fünf Kilogramm schwer werden. Diese verborgene Lebensweise greift der wissenschaftliche Name auf: Lathraea squamaria (lathraios, gr. = verborgen, heimlich; squamarius, lat = geschuppt).

Grüne Blätter wird man bei der Schuppenwurz vergeblich suchen – sie ernährt sich ausschließlich vom Pflanzensaft anderer Pflanzen, ist also ein Vollschmarotzer. Mit ihren Saugwurzeln zapft sie die Wasserleitungsgefäße ihrer Wirtspflanze an. Dabei handelt es sich um Laubbäume und Sträucher wie Erlen, Haseln, Buchen, Hainbuchen, Eschen und andere. Dass sie im Frühjahr blüht, ist kein Zufall, denn zu dieser Jahreszeit steigt der Pflanzensaft in den Bäumen hoch. Allein schon aufgrund des Größenunterschieds zwischen Wirt und Parasit ist nicht davon auszugehen, dass dem Wirt ein Schaden zugefügt wird.

  Der Blütenbau weist die Schuppenwurz als Vertreter der Familie der Braunwurzgewächse aus. Die Blüten bilden eine dichte, einseitswendige, nickende Traube und locken bestäubende Insekten, insbesondere Hummeln an. In besonders ungünstigen Jahren blüht die Schuppenwurz unterirdisch. Dabei bleiben die Blüten geschlossen und bestäuben sich selbst. Nach der Bestäubung bilden sich Samen von der Größe eines Mohnkorns, die von Ameisen verschleppt oder vom Wasser weggetragen werden. Sie keimen nur in unmittelbarer Nähe von Wurzeln potenzieller Wirtspflanzen. Danach ist Geduld angesagt, denn es dauert immerhin mindestens zehn Jahre, bis die Jungpflanzen die Blühreife erreichen.

Geduld braucht man auch, um bisweilen kleinste Wassertröpfchen am Stängel der Schuppenwurz zu entdecken. Sie werden von der Pflanze aktiv ausgeschieden, weil die grünen Blätter fehlen, über die normalerweise die Abgabe von Wasserdampf erfolgt. Auf diese Weise sorgt die Schuppenwurz für den notwendigen Unterdruck, der die aufgenommenen Nährstoffe von den Wurzeln in die oberen Pflanzenteile saugt.Die in Deutschland zerstreut vorkommende Schuppenwurz zeigt, dass es auch ohne Fotosynthese geht, vorausgesetzt, man gibt der Evolution ausreichend Zeit, trickreiche Anpassungen hervorzubringen.oh