Stimmen aus dem Knochenturm: Eine Spukgeschichte

Einbeck. Jahrhunderte lang stand im Bereich hinter der Münsterkirche die nördliche Stadtmauer. Der Turm »am Feuergraben«, von dem heute nur noch Reste vorhanden sind, wurde von den Einbeckern als Munitionslager genutzt und »Pulverturm« (nicht zu verwechseln mit dem Pulverturm am Sonnenhaken) genannt. Ende des 19. Jahrhunderts wuchs die Stadt immer weiter und »sprengte ihre Ketten«:

Die Stadtmauer wurde an vielen Stellen abgetragen, um Platz zu schaffen. In den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts baute man neue 300 Häuser, und von 1890 bis 1902 legte man rund um die Stadtmauer 15 neue Straßen an. Der schmale Fußweg, der zum Langen Wall führte, wurde zur Stiftstraße ausgebaut. Dazu wurde die Stadtmauer bis auf den Turmrest eingerissen. Die neue Straße führte zum Teil über den alten Friedhof der Münsterkirche. Beim Straßenbau fand man hunderte von Knochen, die im Turm zwischengelagert wurden, so dass der Turm im Volksmund einen neuen Namen bekam: »Knochenturm«. Vor fast 50 Jahren erschien im Südhannoverschen Heimatkalender eine plattdeutsche Geschichte von Albert Hartwig »In´en Pulwertooren speuket´et«: »…Nich blaut hoite, nä auk freuher sind die Einbeck´schen Jungs up dän Pulwertooren rümmerkloatert …«.

Weil aber heute nur noch wenige Einbecker plattdeutsch verstehen, sei die Geschichte auf hochdeutsch fortgesetzt: Die Kinder spielten »Räuber und Landschandarm«. Wenn ein Räuber geschnappt wurde, schleppte man ihn an der Ruine des Turmes nach oben und ließ ihn mit einem Strick unter den Armen in den Turm herab. Den Spalt im Turm kann man auf dem Foto erkennen. Die Räuber mussten aber nicht lange im Turmverlies schmachten, denn wenn das Spiel vorbei war, wurden sie wieder freigelassen. Als die Straßenbauarbeiten begannen, brachte man die Knochen in den Turm. Eines Nachts kam das Einbecker Original Miele Batram hier vorbei. Er hatte im »Schusterkrug« in der Münsterstraße noch ein bisschen Karten gespielt. Die Straßen waren duster, denn »mie där Straaten belüchtunge was dat in där damoaligen Toit noch nich woit her«. Miele hatte sich ordentlich einen hinter die Binde gekippt und strunkelte am Turm vorbei, als er plötzlich Stimmen hörte. Bis eben hatte Miele vor sich hin gedöst, jetzt hatte er eine Haut wie Ziegenleder. Ganz außer Atem lief er zu seinen Freunden »Orig und Aute up´en Taternweg (Rabbetghestraße)«. Seine Freunde schimpften mit ihm, weil er sie zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett holte. Aus Mieles Erzählung konnten sie nicht schlau werden. Sie meinten, er soll nach Hause gehen und sich ins Bett legen. Doch Miele bestand hartnäckig darauf, dass er Stimmen gehört habe. Also machten seine Freunde sich mit ihm auf den Weg, um nachzusehen, was dort im Turm vor sich geht. Und was fanden sie? Zwei junge Burschen. Die beiden saßen im Turm und sortierten… nein, keine Knochen, sondern Würste. Sie konnten sich aber nicht einigen, wer die dickste Mettwurst behalten sollte, und darüber gerieten sie in einen lautstarken Streit.

Doch wo hatten sie die Würste her? Von Miele und seinen Freunden in die Enge getrieben, wurden sie kleinlaut: Gegenüber vom Turm wohnte »Zuperndente« (Superintendent) Vordemann (Ernst Vordemann war von 1889 bis 1919 an der Münsterkirche tätig). Der Pastor hatte Schlachtetag, und die beiden Jungen waren nach Einbruch der Dunkelheit in die Wurstekammer eingestiegen, um die leckersten Stücke zu stibitzen. Und die Moral von der Geschichte: Dadurch, dass Miele Batram noch an Gespenster glaubte, hatte der Geistliche Vordemann seine Würste zurück bekommen.wk