»Von Verdun nach Europa«

Vortragsabend der Stadt zum Kriegsende vor 100 Jahren mit dem Historiker Professor Dr. Ernst Piper

Bürgermeisterin Dr. Sabine Michalek dankte Professor Ernst Piper mit einem Karton voller Einbecker Spezialitäten.

Einbeck. Der Waffenstillstand, mit dem der Erste Weltkrieg beendet wurde, jährt sich am 11. November zum 100. Mal. Anlass für die Stadt Einbeck – zusammen mit dem Einbecker Geschichtsverein – dieses Datum mit einem Vortragsabend zu würdigen. Bürgermeisterin Dr. Sabine Michalek begrüßte dazu eine fast vollbesetzte Rathaushalle. »Dieses Datum scheint weit zurückzuliegen, aber die Kriegsfolgen, die Gründung der Weimarer Republik, das Starkwerden nationalistischer Strömungen und des Nationalsozialismus sind Ereignisse in unserer Geschichte, deren Auswirkungen wir bis heute spüren – und heute wieder stärker als wir noch vor kurzer Zeit angenommen hätten.« »Von Verdun nach Europa« hieß der Vortrag von Dr. Ernst Piper aus Berlin, Professor für Neuere Geschichte in Potsdam. Eine »Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs« verfasste er unter dem Titel »Nacht über Europa« (Propyläen).

Rückblick

Kabinettskriege kannte man vornehmlich zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und der Französischen Revolution. Eine Wehrpflicht für 18- bis 25-Jährige gab es in Frankreich seit 1789, in Preußen ab 1814. Kolonialkriege, bei denen ein Dutzend Soldaten zig Tausende Einheimische mittels neuartiger Maschinengewehre umbrachten, folgten Ende des 19. Jahrhunderts, im Ersten Weltkrieg auch eingesetzt von den Deutschen. Militarisiert wurde damals aber die ganze Nation: Die Front war überall, Spionagehysterie, Ausgrenzung innerer »Feinde«. Den »Großmacht-Träumen« von Deutschland, Italien und Japan standen die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich sowie die aufstrebenden Weltmächte USA und Russland gegenüber. Von »Urkatastrophe« könne man nicht sprechen. Ein Krieg sei kein Naturereignis. Viele Krisen seien dem vorausgegangen, erklärte der Historiker mit Beispielen aus Marokko und Deutsch-Südwestafrika. Die Kriegsgefahr sah der SPD-Vorsitzende August Bebel bereits 1911 und auch die Folgen »Massenelend, Arbeitslosigkeit und Hungersnot.« Den Reichstags- Zwischenruf »Nach jedem Kriege wird es besser« interpretierte Dr. Piper mit den bis 1914 »nur positiven« Kriegserfahrungen.

Beispiele der Vorkriegsstimmung

»Im August 1789 beschlossen die Menschen, Weltbürger zu werden. Im August 1914 beschlossen sie das Gegenteil«, zitierte der Referent den Philosophen Theodor Lessing, um das Nationalismus-Denken zu verdeutlichen. Die Vorkriegsstimmung zeigte er an Pro und Contra-Beispielen: Friedrich von Bernhardi, ein pensionierter preußischer General, meinte, Deutschland müsse eine Rolle als Weltmacht anstreben, andernfalls werde es auch seine Position als europäische Großmacht auf lange Sicht verlieren. Der Volkschullehrer Wilhelm Lamszus schildert in seinem Roman »Das Menschenschlachthaus« Bilder vom kommenden Krieg, von Kasernenleben über Mobilmachung bis zu den Gefallenen. Binnen drei Monaten wurden 100.000 Bücher verkauft.

»Geistige Mobilmachung«

Die europäischen Netzwerke der Kulturschaffenden und Wissenschaftler hielten dem nationalen Denken nicht stand. Auch hier setzte 1914 eine »geistige Mobilmachung« ein: So gaben Wissenschaftler ihre in »Feindesland« erhaltenen Ehrungen zurück oder wurden ausgeschlossen. Jedoch verflog die Anfangs-Begeisterung rasch. 1918 zählte man Millionen Tote, militärisch und zivil, sowie Millionen Kriegsinvaliden. Man zählte auch gut ein Dutzend neue oder wiedererstandene Nationen, neue Flüchtlingsströme und Wanderbewegungen und es folgten weitere Kriege, auch Bürger- und Grenzkriege. Zehn Millionen Zwangsmigranten habe es zwischen 1919 und 1939 gegeben. Von den autoritär regierten Staaten in Europa wurde das Deutsche Reich das aggressivste, so Dr. Piper, der kurz Hitlers Weltmacht-Pläne anriss.

Verdun und Somme

Im zweiten Teil ging es um Gedenkkultur. Verdun ist für die französische Erinnerung wichtig. General Pétain habe ein rollierendes System initiiert, so dass die Mehrzahl aller französischen Soldaten hier gekämpft hat. So wurde Verdun auch Symbol des nationalen Widerstands. Im Ersten Weltkrieg gab es unter Leitung des Roten Kreuzes erstmals systematische Soldaten-Beerdigungen. Diese trugen ja auch Erkennungsmarken.

Die meisten Toten liegen in Belgien und Frankreich – die Soldatenfriedhöfe der Deutschen durften bis 1926 nicht besucht, Ehrenmäler nicht errichtet werden. Weiter zeigte Dr. Piper Fotos zum Umgang mit Historie: von Fleury-devant-Douaumont, einem Ort, der vollständig zerstört wurde und blieb - bis auf eine Kapelle. Auf dem Gebiet dieses Ortes liegt das Gebeinhaus von Douaumont, eine nationale Grabstätte für 130.000 nicht identifizierte Franzosen und Deutsche. Im Museum »Historial de la Grande Guerre« in Peronne an der Somme, forschen Wissenschaftler der an der Somme-Schlacht beteiligten Länder gemeinsam. Das »Musterbeispiel einer lebendigen Erinnerungskultur« zeigte Dr. Piper aus dem belgischen Ypern: Hier trägt ein Gewölbe eines Tors Namen von 54.896 britischen Soldaten.

Jeden Abend zum Zapfenstreich versammeln sich Viele, ihrer zu gedenken. Nationale Gedenkfeiern gehören dazu. Das Bayerische Armeemuseum in Ingolstadt beinhaltet ein Museum zum Ersten Weltkrieg. Das würde nur kaum einer kennen. Die deutsche Erinnerung würde verdeckt durch den Zweiten Weltkrieg. Sich der Verantwortung für die Vergangenheit ebenso zu stellen wie der für die Zukunft, sei wichtig, stellte Professor Piper abschließend fest. Den Briten John Maynard Keynes erwähnte er, der bei den Versailler Verhandlungen dabei war und eine Überwindung des Nationalismus anmahnte. Beeindruckt von der »Faktenfülle, den Zahlen, den Erinnerungen an die vielen Menschen«, aber auch von der Erkenntnis »unserer Unfähigkeit, angemessen zu trauern im Gegensatz zu anderen Nationen«, dankte Dr. Michalek Professor Ernst Piper. Es folgten rege Gespräche, und der Professor signierte seine Werke am Tisch des Literaturhauses.

 

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