Von Halle bis New York – 40.000 Ural-Kilometer

Mit Ural 650 Gespannen unternahmen fünf Motorradfahrer eine Entdeckungs- und Erlebnistour um die halbe Welt

Über ihre Reise von Halle bis New York samt vieler Herausforderungen und Reparaturen berichteten (von links) Johannes Fötsch, Elisabeth Oertel und Anne Knödler. Dr. Günter Diener (Zweiter von rechts) und die vielen Gäste in der PS.Halle waren fasziniert von den Tour-Impressionen.

Defekte Ventile, Zylinderköpfe, Vergaser, Kurbelwellen oder Kolben waren »alltäglich« bei einer ungewöhnlichen Motorradtour: von Halle an der Saale ostwärts bis New York. Mit der Zeit kam »Routine« auf: Während anfangs für Elisabeth Oertel, Anne Knödler, Johannes Fötsch sowie der Zypriotin Efy Zeniou und dem Esten Kaupo Holmberg vom Projekt »Leavinghomefunktion« Zündzeitpunkt oder Ventilspiel noch Fremdworte waren, schafften sie nach mehr als 300 Getriebewechseln dies innerhalb von 16 Minuten. Über ihre Erlebnisse berichteten jetzt Oertel, Knödler und Fötsch vom Projekt bei den Förderfreunden vom PS.SPEICHER.

Einbeck. Dr. Günter Diener freute sich über die große Anzahl der Gäste. Nachdem im Oktober Heidi Hetzer von ihrer Weltreise berichtete hatte, sei jetzt eine Gruppe dran, die Außergewöhnliches hinter sich habe. Nach Ende des Kunststudiums entstand die Idee, als Künstlergruppe nach New York mit Motorrädern zu fahren, erklärte Oertel. Spezielle Reiseerfahrungen hatte sie schon mit Fötsch und andere Mitfahrern gesammelt, als sie 2010 mit Simson-Mopeds bis nach Indien und zurück fuhren. Das Projekt »Leavinghomefunktion« wurde gegründet und sich entschieden, den längstmöglichen Weg gen Westen zu nehmen – Richtung Osten zu fahren.

Während der Tour wollte man verschiedene Gegenden, Menschen und Unbekanntes kennenlernen. Das langsame Vorankommen war gewollter Faktor zur intensiven Auseinandersetzung mit Land und Leuten.

Eine positive Einstellung »Irgendwie kommen wir schon über die 80 Kilometer der Beringstraße« war wichtig. Die Reise sollte nicht nur der Weiterentwicklung des eigenen Weltverständnisses dienen, sondern Gedankenanstöße bieten. Ziel war ebenfalls: Den Alltag zu verschieben und das gewohnte Umfeld zu verlassen, um das Leben eine Zeitlang in ungewisses, fremdes Territorium zu verlagern.

Nachdem per Crowdfunding in drei Monaten der Grundstock von 30.000 Euro zusammengekommen war, entschied man sich, im September 2014 loszufahren, doch hieß es noch: den Motorradführerschein zu erlangen und sich mit Bikes vertraut zu machen. Gewünscht wurde ein zuverlässiges Vehikel, das viele Leute auf der Ostroute kennen und reparieren können: Die Wahl fiel auf die Ural 650 mit Seitenwagen. Komplet aus Stahl ist es stabil, aber auch bekannt für unzählige Pannen. Während der Tour kam auf jeden gefahrenen Tag mindestens einer mit Reparaturen. Geschwindigkeitsrekorde konnte man nicht aufstellen, als ein russischer Fußgänger in der Taiga sie aber zweimal mit seinem Handkarren überholte, war das schon absurd.

Wenn ein Bike am Straßenrand quietschte und qualmte, war die Hilfsbereitschaft immer groß. Unzählige Menschen unterstützten sie und wollten ihren Anteil zum Gelingen des Projekts beitragen.

Den Abend vor dem Start sprangen vier der fünf Motorräder nicht an. Über Nacht »reparierten sie sich selber«. Alle waren froh, so Oertel, als sie ohne Probleme das erste Ziel passiert hatten, das Ortsausgangschild von Halle. Die erste Panne gab es nach 25 Kilometern, zehn Tage wurden benötigt, um Deutschland hinter sich zu lassen.

Während in der ersten Zeit die meisten Pannen selber verursacht wurden, besserte sich das mit jedem Auseinander- und Zusammenbauen der Motorräder. Irgendwie schaffte es die Gruppe bis zum ersten Ziel nach Georgien. 5.000 Kilometer durch Österreich, Ungarn, Serbien, Rumänien, Bulgarien, Griechenland und Türkei waren absolviert.

Da sie positiv und etwas naiv waren, aber nicht total weltfremd, hatten sie zwei Winterquartiere eingeplant. In Georgien schlossen sie Land und Menschen ins Herz. Sie lernten viele Personen kennen und kamen mit unzähligen ins Gespräch – meist begünstigt durch eine Motorradpanne. Zur Gruppe stieß noch der Este Kaupo Holmberg, der in Georgien erst noch seinen Führerschein »erwerben« musste. Zahlreiche Mitfahrer schlossen sich unterwegs eine Zeit lang an. Gepriesen wurde die Freiheit und Ungewissheit jeden Tages. Durch die Pannenmaschinen wusste man nie, wie weit man an einem Tag kam und wo man nächtigte – meist unter freiem Himmel.

Gegenseitig wurde sich aufgemuntert oder die Schönheiten der Umgebung wie der Anblick des Kaspischen Meeres genossen. Ein Dorf dort faszinierte Oertel, es war bestimmt von Kamelen und Uralmotorräder. Im einzigen Laden bekam man alles, was man wollte: Baudenzüge, WD40 oder Zylinderköpfe.

Nach dem ersten Abstecher nach Russland ging es nach Kasachstan. Größe, Entfernungen und Weite beeindruckten die Projektteilnehmer: Sie bekamen eine Ahnung, was ihnen in der Mongolei und in Sibirien bevorstand. Da ihr Navigationsgeräte »abtauchten« waren sie froh, als sie den Paris-Peking-Rallyefahrer Sergej trafen. Er überlies ihnen seine Karten.

In der Mongolei, viereinhalb Mal so groß wie Deutschland, aber nur von drei Millionen Einwohnern bevölkert, lernten sie Einsamkeit und Pisten mit Wellblech-Struktur kennen. Man musste mit 60 bis 70 Stundenkilometer über sie »fliegen«, erklärte Knödler. Nach Pannen wurden die Bikes oft mit Spanngurten, Gaffa-Tape oder Draht wieder »verbunden«.
Nach dem Erreichen Ostrusslands ging es in der Taiga durch kilometerbreite Waldschneisen. Ab Jakutsk gab es Permafrost, passiert wurde auch Oimjakon, die kälteste Stadt der Welt. Minus 71 Grad wurden da schon gemessen.

Bisher passierte man, so Knödler, kasachische Gewitter und die mongolische Wüste oder wurde pausenlos gejagt von sibirischen Tigermücken – im fernen Osten Russlands stand die nächste Herausforderung bevor, die »Old Road of Bones«. Sie scheint »unfahrbar« mit 300 Kilometern Sumpf, Flüsse und Schlamm. Die Fünf wollten die Passage in vier Tagen schaffen, es dauerte viel länger. Matsch, Moore, Schlamm, Pfützen und Flüsse zerrten an den Kräften.

Auf dem weiteren Weg nach Magadan an der Küste nahmen sie eine Abkürzung über eine seit 20 Jahren geschlossene Straße, um 500 Kilometer zu sparen. »Ein ganz schlechte Idee«, so Fötsch. Drei Tagen peilten sie für 300 Kilometer an, sie hatten doppelten Benzin- und Proviantvorrat. Nach zehn Tagen ging beides zur Neige. Sie ließen ihren Motorräder zurück und holten zu Fuß Hilfe. Ein Einheimischer half mit einem Truck bei der Ural-Bergung.

Vor dem Passieren des Kolyma-Flusses folgte das zweite Winterquartier. Da alle ein Arbeitsvisum für Kanada hatten, wurden die Motorräder per Schiff nach Vancouver geschickt. Sie selber flogen über Magadan, Seoul und San Francisco ebenfalls dorthin. Den Winter 2015/2016 verbrachten sie in Vancouver, arbeiteten (Knödel lernte in einer Schlachterei auch das Nähen von Wunden) und planten das weitere Vorgehen.

Da es weiter nördlich von Magadan keine Straßen mehr gibt, entschieden sich die Ural-Fahrer die Bikes zu Amphibienfahrzeugen umzubauen. Bei der Rückkehr nach Sibiren entstand aus Pontons und vier Motorrädern ein zwei Tonnen schweres und 65 Quadratmeter großes Floß. Ohne Karten fuhren sie 1.600 Kilometer auf dem Kolyma-Fluss stromabwärts Richtung Norden. Im militärisches Sperrgebiet hielt sie keiner auf; viel Aufmunterung, Lob und Proviant erhielten sie dagegen. Nach eineinhalb Monaten »auf See« waren sie froh, in Tscherski an der Mündung an Land zu gehen. Von da ging es – auch mit Unterstützung von Militär, Immigrationspolizei und Geheimdienst – Richtung Osten und Kamchatka. In Bilibino standen 1.200 Kilometer Tundra mit Überqueren von 120 Flüssen bevor. Die Beringstraße rückte näher und wurde passiert.

Von Anchorage trug es die Biker durch die Weiten Alaskas bis nach Kanada. Unzählige Pannen waren weiter stetiger Begleiter. Mit Umwegen ging es über Seattle mit Besuch des Headquarters von Ural Motorcycles sowie einer Grunderneuerung der Motorräder bis nach Los Angeles und dann quer durch die Vereinigten Staten. Am 10. Januar 2017 kamen die Fünf nach zweieinhalb Jahren um 15.04 Uhr am Ziel an: in New York. »Viele Passanten, Weggefährten und Freunde bereiten großartiges ‘Grande Finale’«, sagte Knödler.

Elisabeth Oertel, Anne Knödler und Johannes Fötsch freuen sich nach vielen Erlebnissen, die von Visaproblemen über Verirrungen und Proviantmangel bis zum Kampf mit Maschinen und Naturgewalten reichten, wieder zu Hause zu sein. Bei allen, die ihnen bei der Umsetzung ihres unglaublichen Projektes geholfen haben, bedankten sie sich, aber auch beim Erfinder des Hammers: Bei den russischen Ural-Maschienen hat er viele Probleme »gelöst«.

Günter Diener bedankte sich für das »Mitfahren im Beiwagen« bei der außergewöhnlichen Tour. Die begeisternde Präsentation samt der imposanten Videosequenzen war faszinierend. Viel Beifall und Anerkennung gab es für den Wahnsinns-Ritt der Ural-Biker über 40.000 Kilometer bis nach New York.mru