Machtfaktor:

Vor rund 800 Jahren entstanden die Einbecker Gilden

Zusammenschluss der Gewerbetreibenden war Machtfaktor / Gilden brachten Demokratie / Kaufgilde am Einflussreichsten / Einbeck evangelisch / Franzosen vertrieben

Die Begriffe Zünfte und Gilden sind mit der Entwicklung der Städte eng verbunden. In verkehrsgünstig gelegenen Dörfern siedelten sich immer mehr Menschen an. Handel und Wandel gedieh, und mancher Ort wuchs zu einer befestigten Stadt heran. Hier konnten Leibeigene und Hörige aus der Landbevölkerung nach einem Jahr Aufenthalt frei werden, daher kommt der Ausdruck »Stadtluft macht frei«. Handwerker konnten sich eine gesicherte Existenz aufbauen. Der Einzelne galt nichts, die Gemeinschaft alles.

Einbeck. Nach der Stadtgründung wurde Einbeck – genau wie viele andere norddeutsche Städte – schnell größer. Am Anfang lag alle Macht in den Händen der Herzöge, doch mit dem Wachstum der Städte kam das Geld – und Geld konnten die Fürsten immer gebrauchen. So kam es, dass eine aufstrebende Stadt nach und nach immer mehr Rechte von ihrem Landesherren kaufte. Im damaligen Sachsen wurden auf diese Weise von den Bürgern (das Wort Bürger war ein relativ neuer Begriff, der von König Heinrich geprägt wurde) innerhalb der Stadtmauern immer mehr Freiräume geschaffen.

Zunächst gab es in der Stadt Gewerbefreiheit, aber viele fremde Handwerker, Händler und andere Gewerbetreibende kamen in die Stadt, um am Aufschwung teilzuhaben. Dieser fortwährende Zuzug zwang die Alteingesessenen zu ersten genossenschaftsähnlichen Zusammenschlüssen von Standesgenossen mit gleichen Berufsinteressen. Die Gilden im Mittelalter waren also Vereinigungen von Berufskollegen, um gemeinsame Interessen zu vertreten, aber gleichzeitig dienten sie auch zur Pflege der Geselligkeit – und sie waren nicht zuletzt auch eine Plattform, um Geschäftskontakte zu pflegen und zu erweitern.

Das Wort Gilde kommt von »gilden«, was »bezahlen« bedeutete. Die Kaufgilden waren, was den Handel betraf, die Dreh- und Angelpunkte der Stadt. Der Begriff Zunft unterscheidet sich von der Gilde nur dahingehend, dass sich in den Zünften die Handwerker vereinigten.

Wann genau die Gilden gegründet wurden, lässt sich nicht nachweisen. Die ältesten Gilden waren die Kaufgilden, welche es im Frankenreich seit dem achten Jahrhundert gab.

In unserer Gegend bildeten sich die Gilden Anfang des 13. Jahrhunderts. Im alten Einbecker Stadtrecht von 1279 sind die Grundlagen für die Einrichtung von Gilden in verschiedenen Paragraphen aufgeführt: »Niemand soll ohne Gilde und ohne Erlaubnis der Gildebrüder und Meister seinen Beruf ausüben. Die Gilden mögen ihre Satzungen unter sich auswählen, die ihnen förderlich sind. Jeder Gildemeister soll alle Jahre, wenn er gewählt ist, dem Rate den Eid leisten, dass er seiner Gilde recht vorstehen und dem Rate beistehen will.« Ihre eigenen Angelegenheiten regelte die Gilde im sogenannten »Echteding«, einer Art eigener Gerichtsbarkeit.

Wer in die Gilde aufgenommen werden wollte, musste »ehelich geboren sein, von ehrbaren deutschen und nicht wendischen Eltern abstammen«; wer also aus dem heutigen Sachsen-Anhalt kam, wurde nicht aufgenommen. Der Begriff »ehrlich« umfasste damals auch den Berufsstand. Ein Henker oder Scharfrichter, aber auch ein Müller war vom Eintritt in eine Gilde ausgeschlossen; Ehrenämter oder Patenschaften waren für diese Berufe ebenfalls tabu.In einem alten Leinewebergildenbuch werden die Einbecker Gilden aus dem Jahr 1328 erwähnt: Wandschneider (Kaufleute), Bäcker, Schuhmacher, Krämer, Fleischhauer, Schrader (Schneider), Schmiede und Leineweber.

Innerhalb der Städte herrschte, wie auch in Einbeck, die alteingesessene privilegierte Oberschicht, das Patriziat. Etwa 15 Prozent der Einwohner waren Tagelöhner, Knechte und Gesellen, sie hatten keine Bürgerrechte. Einbeck wurde bis ins hohe Mittelalter nicht demokratisch regiert, sondern von adeligen Patriziern.

Ein entscheidendes Datum für die Einbecker Gilden war der 20. September 1348. An diesem Tag wurde festgelegt, dass jeweils ein Vertreter aus vier Gilden in den Rat gewählt werden soll. Die Gilden der Kürschner, Bäcker, Schuster und die Meynheit (Gemeinheitsgilde) schickten jedes Jahr zu Michaelis (Ende September) »einen aus ihrer Mitte« in den Stadtrat.

Damit war die bisher vorherrschende aristokratische Struktur aufgebrochen. Die »Corsenwichten« (Kürschner) waren die älteste Gilde. Ihre Urkunde wurde offenbar als erste an diesem 20. September 1348 abgefasst. Die drei anderen Urkunden von diesem Tag sind gleichlautend, allerdings mit einem Unterschied: Den Bäckern, Schustern und der Meynheit wurden jeweils zwei Ratssitze zugesprochen. Warum die Gilden so plötzlich zu einem städtischen Machtfaktor wurden, weiß man nicht. Die Einbecker Gilden erreichten »ohne Aufstand und Revolte eine Teilhabe an den Ratsgeschäften«. Allerdings blieben die Standesunterschiede noch lange bestehen. Die Gilden waren zwar formal gleichgestellt, aber der Patrizier sah sich noch bis in das 17. Jahrhundert hinein als »etwas Besseres«.

Die wohlhabendste, einflussreichste und wahrscheinlich auch die älteste Gilde war die Kaufgilde. Aus ihren Reihen wurde im Mittelalter der Bürgermeister gewählt. 1360 war Ludolf von Brucke der Einbecker Bürgermeister, 25 Jahre später wurde ein Hans Erdach als Rademester genannt. Ob er bereits einer der ersten nichtadeligen Bürgermeister war, ist unbekannt. Die Gilden waren jetzt eine feste Größe im städtischen Machtgefüge. Sie waren an allen wichtigen Entscheidungen beteiligt. So wurde zum Beispiel im Jahr 1526 vom Rat und den Gilden der Stadt Einbeck einen fester Zinssatz von 5,0 Prozent beschlossen.

Die norddeutschen Städte hatten im späten Mittelalter 4.000 bis 10.000 Einwohner, nur Braunschweig hatte eine Größe von bis zu 20.000 Bewohnern und war für damalige Verhältnisse eine Großstadt. Um 1400 war Einbeck eine »kleine Mittelstadt« mit etwa 2.900 bis 3.000 Einwohnern. Es gab zehn Gilden, von denen die Kaufgilde den größten Anteil an wehrfähigen Bürgern stellte. Die Gilden waren für einen großen Teil der Einbecker Stadtbefestigung verantwortlich. Die Gräben und Wälle waren nach ihnen benannt.

Der Schustergraben (Schuhmacher-Gilden-Wall) und der Beckergraben (Becker-Gilden-Wall) verliefen vom Tiedexer Tor bis zum Hullerser Tor. Vom Altendorfer Tor zum Ostertor verliefen der »Herrn Graben«, der »Leinweber Graben« und der »Knochenhauer Graben«. Vom Ostertor bis zur nordöstlichen Bastion (heutige etwa der Bereich der Pestalozzi-Schule am Langen Wall) lief der »Kramer Graben«, beziehungsweise der »Kursner Graben«. Von der Bastion bis zum Tiedexer Tor führten der »Kauff-Gilde Graben« und der »Schmiede-Gilden-Graben«. Alle Gilden hatten ihre eigenen Geschütze, die sogenannten Schlangen, mit denen sie die Verteidigungsbereitschaft der Stadt erheblich verstärkten.

Zu Beginn der Reformation in Einbeck waren es die Gilden, die sich als erste dem neuen Glauben anschlossen, allen voran die Schuhmacher, Schneider, Schmiede und Kürschner. 1529 kam es zur großen Machtprobe zwischen Gilden und Adel. Das Machtgefüge kippte, und Einbeck wurde evangelisch – die katholischen Patrizier mussten sich den Gilden geschlagen geben. Der Streit um katholischen oder evangelische Ritus entbrannte und schien kein Ende zu finden. Erst acht Jahre später gelang es Herzog Philipp als Schlichter, die Gilden und Patrizier an einen Tisch zu bringen.

Die Bierbrauer bildeten in Einbeck zunächst keine Gilde, sie sotten ihr Bier in ihren eigenen Häusern und benutzten dazu eine der städtischen Braupfannen, die ihnen zur Verfügung gestellt wurde. In der Polizeiordnung von 1573 heißt es in Regel 32: Wer das Braurecht besitzen wollte, musste »in die Braugilde freien« und 52 Mark bezahlen. Wer das nicht wollte und ohne die Tochter eines Braubürgers zu heiraten in den Genuss des Bierbrauens kommen wollte, der musste das Doppelte bezahlen.

Aus dem Jahr 1740 ist eine Liste der Gildemeister überliefert: Kaufgildemeister Johann Christoph Raven, Gemeinheitsgildemeister Johann Conrad Münchmeyer, Bäckermeister Heinrich Wilhelm Brauer, Schuhmachergildemeister Melchior Wiese, Knochenhauergildemeister Christoph Schottel, Schmiedegildenmeister Christian Metge, Kürschnergildemeister Arend Rudolph Lübbrecht, Schneidergildemeister Magnus Hauenschild, Kramergildemeister Johann Flottwell, Leinwebergildemeister Johann Kahlenberg.

Zehn Jahre später unterhielt die Kaufgilde das »kleine Armenhaus, worin sechs bis acht dieser Elenden größtenteils ihren Lebensunterhalt finden«. Zu dieser Zeit gab es in Einbeck insgesamt 91 Handwerksmeister mit 83 Gesellen und 24 Lehrlingen.

1810 wurden unter dem Bruder Napoleons, König Jerome, die Gildemeister aus dem Rat entfernt. Die alten Gilden wurden aufgelöst und ihr Vermögen verkauft. Am Ende der französischen Herrschaft war es einer aus der Gilde; der Einbeck wieder zur Freiheit verhalf: Knochenhauergildemeister Jacob Hauenschildt organisierte den Widerstand. Nachdem er die »die Jüngsten und Standhaftesten aus seiner Gilde« versammelt hatte, rüstete sie mit Büchsen und Flinten aus und setzte den Präfekten ab. Danach wählten die Gildemeister einstimmig den ehemaligen Stadtkämmerer Jacobi zum neuen Bürgermeister.

Doch als im Jahr 1819 die »Karten neu gemischt wurden«, gingen die Gilden leer aus: Ab sofort sollte der Rat nicht mehr automatisch von zehn Gildemeistern gestellt, sondern aus neun Bürgern bestehen. Trotzdem galten für die Gilden offenbar noch lange Zeit viele Vorrechte: Bei einer Verordnung von 1850 wird zum Beispiel ausdrücklich darauf hingewiesen, dass »dieser Verfügung namentlich auch die Gilden Folge zu leisten haben«.wk