Wurzeln reichen bis zu drei Meter tief

Pflanzenporträt: Disteln haben stachelbesetzte Blätter, um Fressfeinde fern zu halten

»Bleib mir bloß vom Leibe!« Diese unmissverständliche Botschaft zu ignorieren, bezahlt man zumeist mit Schmerzen. Handelt es sich im zwischenmenschlichen Bereich um Kratzbürsten, die ihre Individualdistanz verteidigen, indem sie ihre Krallen ausfahren, setzen ihre pflanzlichen Gegenstücke, die Kratz- und andere Disteln, auf stachelbesetzte Blätter und Stängel, um Fressfeinde von sich fern zu halten.

Einbeck. Diese Strategie war offensichtlich recht erfolgreich, denn im Laufe der Evolution haben sich in den beiden einheimischen, schwer unterscheidbaren Pflanzengattungen Distel (Carduus) und Kratzdistel (Cirsium) etliche Arten entwickelt. Die meisten Arten sind recht formenreich, so dass häufig keine Unterarten abgegrenzt werden können. Die Pflanzen gehören zur Familie der Korbblütler. Ihre Blütenköpfe setzen sich aus mehreren kleinen, zumeist lilafarbenen, bei einigen Arten gelblichen Blüten zusammen. Bei den Kratzdisteln ist die Haarkrone der Frucht (Pappus) fedrig, bei den Disteln dagegen glatt. Die Flugfrüchte werden durch den Wind weit verbreitet. Landen sie dabei auf einem Acker oder in einem Garten, finden sie dort gute Wachstumsbedingungen vor, denn viele Arten bevorzugen stickstoffsalzreiche Böden. Wenn sie dort erst einmal Fuß gefasst haben, ist es schwer, sie wieder los zu werden.

Von der Acker-Kratzdistel weiß man, dass sie bis zu drei Meter tief wurzelt. Es genügt also nicht, sie oberirdisch abzuschneiden, denn aus dem Wurzelstock treibt sie immer neu nach. Um eine weitere Ausbreitung zu vermeiden, hilft nur, die Pflanzen vor der Fruchtreife so tief wie möglich auszustechen – eine mühsame Arbeit! Die Besitzer der Nachbargrundstücke werden es möglicherweise danken, denn nicht jeder schätzt eine Spontanvegetation, wie Unkrautgesellschaften neuerdings heißen.

Bei aller Ordnungsliebe sollte jedoch keine radikale Entdistelung erfolgen. Am Feldrand oder in einer Gartenecke findet sich bestimmt ein Platz, an dem der Distelfalter Nektar saugen und seine Eier ablegen kann. Mit etwas Glück lässt sich der Distelfink beobachten, der sich  hauptsächlich von den ölreichen Distelsamen ernährt. Doch nicht nur diese beiden Tierarten, deren Name bereits die Abhängigkeit von den vermeintlichen »Unkräutern« signalisiert, leben von und mit den Disteln, sondern viele weitere Insekten- und Vogelarten, die die heimische Fauna bereichern.

Bis auf die Kohldistel, die in manchen Gegenden als Gemüsepflanze genutzt wird, spielen die einheimischen Disteln keine Rolle als Heil- oder Nahrungspflanzen. Diese Lücke schließen exotische Arten wie die aus dem Mittelmeerraum stammende Artischocke (Essdistel), deren mannshohe Pflanzen nicht nur das sommer-liche Staudenbeet schmücken, sondern auch schmackhafte Blütenteile liefern. Ihre Blätter wirken harntreibend und die Wurzeln werden vor allem als verdauungsförderndes Mittel verwendet. Aus der Färber- oder Saflordistel, die ihre Heimat in Kleinasien hat, gewinnt man Distelöl. Es enthält besonders viele ungesättigte Fettsäuren und ähnelt im Geschmack dem Sonnenblumenöl. Eine Distelart wurde zu Ehren von Maria, der Mutter Christi, benannt. Der Legende nach sind die weißen Streifen auf den Blättern durch Tropfen ihrer Milch entstanden. Ursprünglich in Südeuropa zu Hause, ist die Mariendistel inzwischen in Mitteleuropa eingebürgert. Ihrem Wirkstoff, dem in den Samen enthaltenen Silymarin, schreibt man eine positive Wirkung auf die Leber zu.

Wer weiß, welche wohltuenden Wirkstoffe in Kratzdistel & Co stecken? Um das herauszufinden, muss man ihnen nur mit den richtigen Methoden zu Leibe rücken.

Ingrid Mülleroh