Das Rathaus im Zustand des 16. Jahrhunderts

Fotografie aus der Zeit um 1870 | Unterschiede zu heutigem Erscheinungsbild werden deutlich

Eines der ältesten Bilder vom Einbecker Rathaus im Bauzustand des 16. Jahrhunderts in einer Aufnahme aus der Zeit um 1870.

Einbeck. Aufnahmen vom Alten Rathaus gab es an dieser Stelle schon öfter und in besserer Qualität. Die heutige Aufnahme ist noch nicht mal ganz scharf und stark zerkratzt. Dennoch:?Man erkennt, dass das alte Rathaus auf dem Foto völlig anders als heute aussieht. Das Gebäude präsentiert sich noch annähernd in der ursprünglichen Form aus dem 16. Jahrhundert – ein Bild aus der guten alten Zeit.

Je genauer man hinschaut, desto mehr Unterschiede sind zu erkennen: Die Treppe führte noch auf direktem Weg in die Rathaushalle, an deren Nordwand sich ein mächtiger Schornstein befand. Der westliche Turm wurde von Stützen getragen, so dass man unter dem Turm hindurchgehen konnte.

Vielen Einbeckern völlig unbekannt: Am linken Bildrand befindet sich ein Altan, ein überdachter Balkon, »mit einer, von zwei Säulen in antikisierender Form getragenen Ueberdachung«. Auch die breiten Dachfenster zeigen sich noch wie im 16. Jahrhundert. Heute sind diese Fenster noch an einigen alten Häusern, zum Beispiel in der Tiedexer Straße, zu sehen.

Um das Alter des Fotos ungefähr zu bestimmen, kann man zwei datierte Zeichnungen zu Hilfe nehmen. Eine stammt aus der Zeit um 1866 und die zweite um 1890. Im Vergleich mit den Zeichnungen fallen noch mehr Unterschiede auf: Der Schornstein hat auf den Zeichnungen eine quadratische Form, auf dem Foto ist er länger als breit. Der von Säulen gestützte Altan sieht auf beiden Zeichnungen genauso aus wie auf dem Foto. Einen Aufschluss zur Datierung könnte die Baumkrone rechts geben: Die Zeichnungen und das Foto zeigen fast exakt den gleichen Blickwinkel. 1866 reicht die Baumkrone noch nicht an den rechten Turm. Auf dem Foto berührt die Baumkrone das rechte Turmfenster und einen kleinen Teil des Turmdachs. 1890 reichten die Äste bis knapp an den mittleren Turm.

Und wenn man ganz genau hinsieht, dann erkennt man drei Uniformierte. Ganz offenbar haben sie sich extra für das Foto aufgestellt. Der Mittlere steht in strammer militärische Haltung da, seine Kollegen sind etwas entspannter. Ob es sich um Wachtmeister der preußischen Landgendarmen handelt, lässt sich nur vermuten. Das, was man von Helm und hellem Gürtel erkennen kann, lässt möglicherweise darauf schließen. Das Königreich Hannover wurde von Preußen 1867 annektiert.

Wenn der Fotograf noch ein Foto vom Bereich vor der Marktkirche gemacht hätte, könnte man mehr sagen. Hier stand bis dahin die Einbecker Stadtwache. Die neue preußische Regierung führte ihre eigenen Gendarmen ein und hatte kein Interesse mehr an der alten Polizeistation. Das Gebäude bekam einen völlig neuen Zweck. Es wurde zeitweilig als »Kleinkinderschule« genutzt. 1876 musste die Stadtwache für das neue Ehrenmal für den Krieg 1870/71 weichen. Die Verwaltung der Stadt entschloss sich, das Haus abzutragen. »Die an dem hiesigen Markplatze befindliche, aus dem vorigen Jahrhundert stammende und in freundlichem Stile aufgeführte Hauptwache soll nach dem Beschlusse der städtischen Collegien vor dem Hullerserthore auf dem Walle neben dem freien Platze der höheren Bürgerschule wieder aufgebaut werden, wenn auch in etwas anderer Gestalt.

Der Marktplatz macht nach Wegräumung des Gebäudes einen um so großartigeren, schöneren Eindruck« (Kreisblatt vom 9.8.1876). Die alte Stadtwache wurde am Krähengraben wiederaufgebaut. Unter anderem wohnte hier der Einbecker Geschichtsforscher Professor Dr. Otto Adolf Ellissen mit Fräulein Ottilie Ellissen. Als sich 1895 der »Verein für Geschichte und Alterthümer der Stadt Einbeck und Umgebung«, der heutige Geschichtsverein, gründete, wurde Otto Ellissen zum ersten Vorsitzenden gewählt. Seit 78 Jahren ist das Haus im Besitz der Familie Bode.

Doch zurück zum Rathaus: Die letzte Aufnahme des Bauzustandes, so wie sie auf dem Foto zu sehen ist, nahm 1866 der Architekt Wilsdorff vor. Ab 1870 ließ die Stadtverwaltung das Rathaus schrittweise, je nach Finanzlage, umbauen. Der Umbau mit zum Teil erheblichen Eingriffen auf die historische Bausubstanz dauerte bis 1908.

Aufgenommen wurde das Bild vom Fotografen Hermann Eicke, der in den 1880er Jahren sein Atelier am Neuen Markt hatte. Das Foto ist in Originalgröße hochformatig und mit einem goldenen Rand und dem verschnörkelten Schriftzug des Fotografen verziert. Für die Bauaufnahme des Rathauses fertigte der genannte Architekt 1866 eine Federzeichnung des Gebäudes an. Die Zeichnung deckt sich bis ins Detail mit dem Bauzustand auf dem Foto. Was genau ab 1870 am Rathaus zuerst umgebaut wurde, ist unklar. Einen Hinweis bietet das Buch »Kunstdenkmale und Altertümer im Hannoverschen« (Mitthoff 1873). Danach wurde die Rathaustreppe 1870 umgebaut. Das Foto und die Zeichnung von 1866 sind identisch. Umbaumaßnahmen sind nicht zu erkennen.

Foto-Ateliers gab es in Einbeck seit den 1870er Jahren. Im Internet werden regelmäßig zahlreiche Einbecker Porträtfotos aus der Zeit von 1870 bis 1890 angeboten. Außenaufnahmen dieser Zeit sind aber selten. Wenn man davon ausgeht, dass die Angabe mit dem Treppenumbau von 1870 korrekt ist, dann stammt die Aufnahme aus der Zeit um 1870. Somit bietet das historische Rathaus-foto den Lesern ein fast 150 Jahre altes Fenster in eine längst vergangene Zeit. Ermöglicht wurde die Veröffentlichung dankenswerterweise durch Werner Zänker, der das Bild zur Verfügung gestellt hat. Er befasst sich seit Jahrzehnten mit der Geschichte der Stadt Einbeck, speziell mit dem Thema August Stukenbrok (ASTE).wk