Bewegung fördert Körper, Geist und Seele

Informativer Vortrag von Dr. Dieter Breitenhecker beim Kongress des Turnkreises Northeim-Einbecker

Einbeck. Ob Bewegung wirklich schlau macht, das hinterfragte Dr. Dieter Breitenhecker, Leiter der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung (BAG), beim Eröffnungsvortrag des Kongresses des Turnkreises Northeim-Einbeck in den Turnhallen am Hubeweg. Bewegung habe zwar keinen linearen Zusammenhang mit Bildung, so Breitenhecker, doch helfen qualitative körperliche Betätigungen, Körper, Geist und Seele zu entwickeln.

Im Prozess des Heranwachsens verändern sich Kinder und Jugendlichen vom Körperaufbau sowie von ihren Fähigkeiten. In der kritischen, sensiblen Phase seien »schaffbare« Anreize, Rückkopplungen und Motivationshilfen notwendig, psychisch und physisch in Bewegung zu bleiben und um den Reifeprozess zu fördern, auch mit begangenen Fehlern. Joseph Clinton Pierce hat gesagt, dass Ängste und die Gedanken an falsche Entscheidungen abgelegt werden müssten, um ein kreatives und erfüllendes Leben zu führen. Ein lebendiges Wesen betreibe immer eine Interaktion mit der Umwelt, so dass es zu Wahrnehmungsstörungen, Konflikten und Fehlentscheidungen kommen könnte, doch sollte jeder ständig aus seinem Verhalten lernen, um für kommende Herausforderungen gewachsen zu sein, so Breitenhecker.

Während heute Kinder in ihrer Sozialisation oft verplant, durchorganisiert und behütet seien, war dies früher anders. Spontan, selbst organisiert und risikofreudig hätten sie beim Tollen, Toben oder Springen mannigfaltige Erfahrungen und Kompetenzen gesammelt und durch ihre Bewegungen ein höheres Anspruchsniveau gehabt, das ihren Reifeprozess vielfältig gefördert habe.

Körper und Gehirn könnten nicht wachsen, wenn sie nicht vor Aufgaben gestellt würden, an denen sie sich so weiterentwickeln. Vorgegebene, normierte, eingeschränkte und zu sichere Angebote, die kein Wagnis und keine Herausforderung bieten, schränken den Entwicklungsprozess ein, während natürliche, intuitive, normfreie und mit Risiken verbundene Angebote immer wieder neue Impulse setzen, Selbstwertgefühl und Lösungsmechansimen stärken sowie die situative Intelligenz bei Problemen reifen lassen.

Aus der Sicht der Evolution sei die Überlebenswahrscheinlichkeit eines biologischen Systems umso größer, je besser es sich an unterschiedliche Lebensbedingungen anpassen könne. Breitenhecker zitierte Galileo Galilei, dass man eine Person nicht alles lehren, aber helfen könne, eigenständig Probleme und Situationen immer besser meistern zu können.

Gemäß der Aussage der Evolutionstheorie »Survival of the Fittest«, also das Überleben der am besten angepassten Individuen, und dem Ansatz, dass es ständig eine Wechselwirkung zwischen Körper, Geist und Seele gebe, haben sich die Menschen seit ihrem Bestehen ständig und täglich weiterentwickelt, um steigende Herausforderungen der reizreichen Umwelt gewachsen zu sein.

Rund 400.000 Informationen werden permanent an das Gehirn geschickt, das filtert, welche für die jeweilige Situation – wie beim aufrechten Gang – benötigt werden. Nehmen hingegen die Propyorezeptoren eine veränderte Körperlage auf, also eine Stellungsänderung der Körperteile zueinander, werden das Haltungsbewusstsein und die Informationen von den Sensoren in Muskeln, Sehnen und Gelenken geändert.Werden mehr Reize gesendet, erhält das Gehirn auch mehr Informationen, es wird wacher und kann sich immer wieder auf neue Herausforderungen einstellen. Spiele, Abenteuer, Risiken und Erfahrungen sind daher elementare Faktoren, die helfen, dass sich kontinuierlich das abstrakte Denken entwickelt, also dass sich das heranwachsende Kind zu einer selbst bildenden komplexen Einheit formt.

Bei der Geburt sind die mehr als 100 Milliarden Gehirnzellen noch isoliert. Erst durch Erfahrungen, Entdeckungen und Erlebnisse entstehen Verbindungen, die sich durch Wiederholung der Vorgänge stärken. Je komplexer und verzweigter das Netzwerk wird, bei Kindern vor allem durch Bewegung beeinflusst, desto reichhaltiger und vielseitiger entwickelt sich ebenfalls das Spektrum an Reaktionen, die zur Lösung von Problemen zur Verfügung stehen.

Diese Reifungsprozesse brauchen immer »Nahrung«, also immer Erfahrungen in Form von problemlösenden Alltagsgeschehnissen, um Kompetenzen für Handlungen und zukünftige Lösungsansätze zu erhalten. Da auch das Gehirn nicht zum stupiden Befolgen von Instruktionen und Anweisungen gedacht ist, sondern zum Lösen von Herausforderungen, müssen vor allem Kinder Erfahrungen und Kompetenzen selber sammeln. Dabei sollten Erwachsene aus Angst, dass etwas passieren könnte, sie nicht »bemuttern« oder »überhüten«, denn dies minimiere die Entwicklungschancen. Kinder wissen meist oft selber am besten, welches Wagnis oder Risiko sie eingehen können, so Breitenhecker.

2010 hat Professor Dr. Klaus Völker festgestellt, dass die Gesundheit maßgeblich auch vom Ausmaß der Alltagsaktivität beeinflusst ist. Da auch die Bewegung ein wichtiger Teil des Seins und der Entwicklung sei, solle ihrem Drang immer nachgegangen werden, nicht nur beim Sport oder in den Pausen, sondern vor allem dann, wenn Bedarf besteht. Erwachsene, aber vor allem auch Kinder, sollten keinen straff durchorganisierten Tag vom Aufstehen bis zum Schlafengehen haben, sondern sich selber »erleben«. Ein festes Programm nach Schule oder Arbeit von einer getimten Aktivität zur anderen hindere die umfangreiche Ressourcenabschöpfung im Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele. Im Gegensatz dazu fördere von Neugier gesteuertes Erkundungs- und Entdeckungsverhalten die Ansätze, aber auch Selbstsicherungsfähigkeit, Risiko- und Wagniskompetenz, Empathie, die Differenzierung der Herausforderungen sowie die Möglichkeiten, komplexe motorische oder psychische Herausforderungen zu bestehen.

In der europäischen Norm 1176-1 zu Außenspielflächen und Spielgeräten heißt es, dass unter Berücksichtigung der Eigenarten des kindlichen Spielens und der Art, wie Kinder vom Spielen auf dem Spielplatz hinsichtlich ihrer Entwicklung profitieren sowie das Niveau ihrer Leistungsfähigkeit sozial, geistig oder körperlich erweitern, sie lernen müssen, mit Risiken fertig zu werden, die auch zu Unfällen oder Verletzungen führen können. Zwar werde die Risikokompetenz nur durch eigene Wagniserfahrungen ausgebildet, so Breitenhecker, doch verfügen Jungen und Mädchen über eine angemessene Selbsteinschätzung. Sie schaffen sich oft spannungsreiche Situationen, um eigene Fortschritte selber wahrzunehmen, doch erweitern sie diese Handlungsspielräume stets bis zu einer - noch kontrollierbaren - Grenze.

Zum Abschluss appellierte Breitenhecker an die Kongressteilnehmer, in Schulen, Vereinen, Institutionen oder Gruppierungen dafür zu sorgen, dass sich – nicht nur für Kinder – Bewegung lohnt, dass sich motorisch betätigt werde, dass Situationen geschaffen werden, in denen eigene Lösungsmöglichkeiten und Stärken Einzug halten, dass es Ansätze zur Entdeckung und Entfaltung mit allen Sinnen gibt und dass in Angeboten gewonnene Einsichten, Erfahrungen, Kenntnisse und Fähigkeiten immer praktisch und nützlich für die jeweilige Weiterentwicklung sein sollten.

Heinz-Willi Elter, Vorsitzender des Turnkreises Northeim-Einbeck, bedankte sich bei Breitenhecker für den informativen Vortrag, der viel Beifall erhielt, sowie für die zahlreichen auflockernden und lehrreichen Beispielübungen. Im Anschluss wünschte er den Kongressteilnehmern viel Spaß, Bewegung und Erfahrungsgewinn bei den 27 Work-Shops.mru