Das Wissen der Welt in der Hosentasche

Fachtagung »Medien« mit verschiedenen Workshops | Verschwinden von Langeweile | Komplexe Quellenkritik

Einbeck. Kommunikationsterror, Sexualität in den Medien, aktuelle Trends und Gefahren bei Smartphones oder auch Cyber-Mobbing - der Landkreis hat jetzt in den BBS Einbeck eine breit gefächerte Fachtagung samt Workshops zum Thema »Medien« angeboten. Dabei referierte Professor Dr. Tanja Witting vor rund 160 Teilnehmern auch über Motive, Mythen und Möglichkeiten der Medien. Sie  plädierte für Risiken-Minimierung, aber auch für Nutzung neuer Chancen.

Witting warf einen kurzen Blick auf alte und neue Medien und ihre Herausforderungen und Chancen.  Die Erfindung der Schrift etwa im 4. Jahrhundert vor Christus bezeichnete Witting als erste Medienrevolution, und sie zog Parallelen zur heutigen Situation. Der neuen Schrift gegenüber aber standen Kritiker, beispielsweise befürchtete Platon eine Vernachlässigung des Gedächtnisses. Auch heute gehe Professor Dr. Spitzer mit der »digitalen Demenz« in die gleiche Richtung. Eine Art der Entlastung aber sei gut, meinte die Professorin, denn die Datenflut sei heutzutage viel größer. Weiter fürchtete Platon, dass bei einer nicht direkten Wissensvermittlung die Möglichkeit der Korrektur verloren gehe. Auch heutzutage gebe es viele Inhalte wie beispielsweise youporn, die einer Art »Torwächter« bedürften, merkte Witting an.

Die Erfindung des Buchdrucks 1448 bezeichnete Witting als zweite Medienrevolution. Die Verbreitung der Lese- und Schreibfähigkeit sei aber lange Zeit danach noch gering ausgeprägt gewesen. Erst im 18. Jahrhundert entwickelte sich eine Lesesucht- beziehungsweise Lesewut-Debatte. Damals wurden Realitätsverlust und Verfall der Sitten befürchtet. Ein lesender Mensch, der in eine komplett andere Welt abgetaucht war,  erschien als »Nerd«, denn der Medienkonsum habe Zeit gebunden, die ansonsten für reale Tätigkeiten genutzt worden war. Doch es zeigte sich, dass Menschen die Medien kompetent nutzen konnten.

Die Ängste, die es gegenüber Schrift und Printmedien gegeben habe, tauchten auch auf, als sich Anfang des 20. Jahrhunderts der Film verbreitete, ebenso beim Fernsehen. Bis heute aber hätten sich die Ängste nicht bewahrheitet, so Witting: Die höchste Fernsehzeit am Tag hätten beispielsweise die älteren Menschen. Die heutigen Probleme im Umgang mit digitalen Medien seien also nicht neu. Neue Medien beinhalteten aber auch neue Möglichkeiten, folgerte die Referentin, deshalb müsse man neue Umgangsstrukturen entwickeln. »Medienkompetenz muss sich immer neu entwickeln.«Motive für die Mediennutzung seien die Neugier, und der Wunsch nach Unterhaltung. Heute gebe es jede Menge Unterhaltungsangebote allein auf den Smartphones. Ein Problem in der digitalen Welt sei damit das Verschwinden von Langeweile. Menschen seien nicht mehr in der »abgeschalteten Funktion« und das sei ein großer Verlust. Weiteres Motiv für die Mediennutzung sei die Erzeugung oder Verdrängung von Stimmungen. Die Selbstwerterhöhung funktioniere beispielsweise bei Casting-Shows oder bei facebook. Mit dem Mood-Management in Verbindung stehe das Suchen und Pflegen von Kontakten. Zugenommen habe die Möglichkeit der Selbstdarstellung. Dass nun ein großes Publikum dabei sei, sei die große Veränderung. Das wiederum könne »wunderbar oder schrecklich« sein. Denn die Reaktion der anderen sei nicht vorhersehbar.

Heute, in der Zeit der Digitalisierung, erlebe man die dritte Medienrevolution. Mit Computer- und Internetzugang habe man alle Möglichkeiten der interaktiven und vernetzten Nutzung. Starre Empfänger- und Sendermodelle wurden aufgelöst, es gebe erhöhte Informations- und Beteiligungschancen. Wichtig sei deshalb die Fähigkeit zur komplexen Quellenkritik. Wer liefert welche Inhalte mit welcher Absicht, das müsse hinterfragt werden. Und wenn man sich in sozialen Netzwerken bewege, brauche man eine extrem gute soziale Kompetenz. Denn die Konsequenzen des eigenen Handelns müssten abgeschätzt werden.

Für ein Selfie benötige es der grundlegenden Technik-Kompetenz, aber auch der Sozialkompetenz, nämlich zu erkennen, wann der richtige Moment für ein Selfie sei. Selfies seien aber nicht nur risikoreich, sie könnten auch ein gutes Werkzeug sein, beispielsweise bei Kunstprojekten. Und damit könnten Selfies ein gutes Beispiel für gelungenen Umgang mit neuen Medien sein: mit Minimierung von Risiken und zugleich dem Ausschöpfen ihrer Potenziale.Die Begrüßung der Teilnehmer übernahm Benjamin Große vom Landkreis Northeim. Als Schulleiter hieß Renatus Döring die Teilnehmer in den BBS willkommen. In den vergangenen zehn bis 15 Jahren habe sich die Art zu kommunizieren, zu lesen oder Musik zu hören, verändert. Das Wissen der Welt trage man heute in der Hosentasche, bekräftigte Döring: »Wir erleben etwas Außergewöhnliches.« Die Smartphones würden auch in der Zukunft große Veränderungen mit sich bringen. Da sei es den BBS eine »Herzensangelegenheit«, ihre Schüler vorzubereiten - zumal auch das Lernen in authentischen Zusammenhänge am meisten Spaß mache. Viele BBS-Schüler seien eingebunden in die Fachtagung, beispielsweise beim Schatten- oder Schwarzlichttheater, freute sich der Schulleiter. M. Schnabel, stellvertretende Fachbereichsleiterin Kinder, Jugend, Familien vom Landkreis Northeim, erklärte, dass dem Landkreis Medienkompetenz wichtig sei. Der verantwortungsbewusste Umgang mit neuen Medien in der Kinder- und Jugendarbeit sei das Ziel.

In zwei Workshoprunden hatten die Teilnehmer die Chance, sich in Kleingruppen über Risiken und Möglichkeiten der kreativen Nutzung der Medienwelt zu informieren.  Themen der Workshops waren Smartphones, Rechts-Basics, Internetcafés, die Sexualität in den Medien, die e-Partizipation, Social Software, Computerspiele, Filmarbeit, Radio- und Audioarbeit, barrierefreie Informationstechnik, Cybermobbing und Medienkonsum beziehungsweise Mediensucht bei Jugendlichen.  Der Film »The social network« rundete die Fachtagung ab.sts