Das Ziel ist eine tolerante und humanitäre Gesellschaft

Volkstrauertag mit Gottesdienst und Kranzniederlegung | Gedenken an Opfer von Krieg, Gewalt, Terror und Verfolgung

Traditionell feierten die christlichen Kirchengemeinden Einbecks den Volkstrauertag gemeinsam mit einem Gottesdienst in der Marktkirche und mit der Kranzniederlegung am Mahnmal. Die Feier zum Gedenken an die Toten habe Menschen mit völlig unterschiedlichen Lebenserfahrungen, Erinnerungen und Schicksalen zusammengeführt, erklärte Bürgermeisterin Dr. Sabine Michalek. Es seien einige Bürger anwesend, die den NS-Terror mit Weltkrieg, Bombennächten, Flucht und Vertreibung erlebt hätten, andere, die als Nachkriegsgeneration in friedlichen Zeiten aufgewachsen seien, sowie junge Mitmenschen, für die Frieden und Freiheit in Europa ein normales Gut sei.

Einbeck. Im vergangenen Jahr habe die Europäische Union den Friedensnobelpreis erhalten, für Michalek ein eindringlicher Hinweis, dass der aktuelle Frieden in Europa keineswegs selbstverständlich sei, sondern eine Aufforderung, immer wieder daran zu arbeiten. Die bittere Erkenntnis, zu welchem Denken und Handeln Menschen fähig seien, dürfe nie in den Hintergrund geraten, mahnte die Bürgermeisterin. Daher müs-se man sich aus der Erinnerung an das Vergangene heraus um den Schutz der Werte menschlicher Zivilisation bemühenn, nicht nur in einzelnen Phasen emotionaler Erregung infolge bestimmter Ereignisse.

Die regelmäßigen Gedenkveranstaltungen am Volkstrauertag seien ein wichtiger Beitrag, wobei das Motto des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge, »Versöhnung über den Gräben – Arbeit für den Frieden«, das Ziel vorgebe. 1919 sei die Vereinigung gegründet worden, und 1922 wurde erstmals unter der Bezeichnung »Volkstrauertag« eine Gedenkstunde im Berliner Reichstag abgehalten, erinnerte Michalek. Damals forderte Reichspräsident Paul Löbe, dass an alle Toten – auch die der beteiligten anderen Völker – gedacht werde, ohne in glorifizierende Heldenverehrung zu verfallen.

Dies änderte sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten, die den Volkstrauertag ab 1934 in »Heldengedenktag« umnannten, ihn mit großem Aufwand inszenierten und die rund 12.000 gefallenen deutschen Soldaten jüdischer Abstammung ausgrenzten. Ab 1939 wurden der propagandistische Heldengedenktag und der Jahrestag der Wiedereinführung der Wehrpflicht zusammen gefeiert, um zum Kämpfen im bevorstehenden Krieg zu mobilisieren; am Ende gab es mehr als 55 Millionen Tote.

Nach dem Zusammenbruch wurde den traumatisierten Deutschen allmählich klar, dass ein Neuanfang in allen Bereichen des Lebens – auch im Gedenken an alle Kriegsopfer – erforderlich war. Trotz teilweiser hilfloser Versuche der Verdrängung und des Verleugnens reifte die Erkenntnis, dass Trauer um die gefallenen Soldaten nicht möglich sei, wenn nicht auch an die Opfer der von Deutschen begangenen Verbrechen gedacht werde. Aus diesen Gedanken entwickelte sich der Volkstrauertag als gemeinsames Totengedenken für Kriegs- und Gewaltopfer; ein Prozess, der jedoch bis heute noch nicht abgeschlossen sei, so Michalek.

Seit den 1960ern werden am Volkstrauertag auch die politisch, religiös oder rassistisch verfolgten Menschen mit einbezogen. Weiter sollten immer die Frauen, Männer und Kinder, die durch Krieg oder Terror starben, im Mittelpunkt des Gedenkens stehen, denn das unendliche, seelische und körperliche Leid jedes Einzelnen sei unermesslich. Durch die Erinnerung und die Achtung der Toten sowie durch die bewusste Auseinandersetzung der Lebenden mit dem sichtbaren Fehlverhalten der Historie oder dem willkürlichen, verbrecherischen Regime der NS-Zeit können der Blick in die Zukunft geschärft werden. Die Geschichte sei ein gewaltiges Frühwarnsystem, so die Bürgermeisterin, doch müsse noch gelernt werden, es besser zu nutzen.

Die Bereitschaft, sich in Gefühle der anderen Menschen hineinzuversetzen, erzeuge Respekt, Toleranz und Solidarität, schütze vor Hass und Vorurteilen und wecke das Bedürfnis zu helfen. Mit Blick auf das 20. Jahrhundert bedeute dies, dass sich dergleichen Unheil nicht wiederereigne. Wer mitfühlen könne, sei ein friedfertiger Mensch, doch wäre es für das Miteinander auf dem Planeten sinnvoll, wenn nicht nur am Volkstrauertag daran gedacht werde.

Überall in Deutschland gebe es Mahnmale zur Erinnerung an die Opfer von Krieg und Gewalt, doch sei das beste Denkmal, der Aufbau einer Gesellschaft, die über alle Grenzen hinweg von Toleranz, gegenseitiger Achtung und Humanität geprägt sei, so die Bürgermeisterin.

Nachdem Christian Grascha die Lesung über die Bergpredigt nach Matthäus – eine Sammlung von zentralen Worten von Jesus zu Seligpreisungen verknüpft mit geistlicher Armut, Trauer, Demut, Sanftmut, Gerechtigkeitssuche, Barmherzigkeit, reinem Herzen, Friedens-Stiftung und Leidensbereitschaft wegen Verfolgung hielt, nahm Pastor Daniel Konnerth das Thema mit einer Geschichte in seiner Predigt auf: Dabei ging es um einen 70-jährigen Rentner, der mit seiner Frau in Einbeck lebt und Besuch von seinem Sohn, seiner Schwiegertochter und seinen drei Enkeltöchtern erhält. In trauter Runde sitzen, malen und spielen sie zusammen, bis das älteste Enkelkind fragt, wo der Papa des Seniors sei, wie alt er wurde und ob er schon vor langer Zeit gestorben wäre. Darauf antwortet der Opa ihr, dass  sein Vater als junger Mann im Zweiten Weltkrieg starb und er nicht wüsste, wo dessen Grab sei. In der Folge wühlt ihn die fast verwaiste Erinnerung an seinen Vater auf, und er findet im Internet auf der Seite der Deutsche Kriegsgräberfürsorge über die Suchfunktion auf einem Soldatenfriedhof bei St. Petersburg die Grabstelle. Danach kehren Momente seiner Kindheit zurück, wie mutig, aber auch groß und stark sein Vater war, nicht nur, wenn er ihn als Kind in die Luft warf.

Früher beneidete er auch seine Mitschüler, wenn deren Väter aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrten, seiner aber nicht. Weiter versucht er sich an das Antlitz seines Vaters zu erinnern, fängt dabei an zu weinen, bekommt Trost von seiner Frau und erinnert sich an die Aussage »Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder sein.« Für ihn sind jetzt seine Enkelkinder, »seine Mädchen«, Gottes Kinder, die, anders als sein Vater, in einem friedfertigen Europa aufwachsen können. Ob deren Lachen oder die Stimmen, er empfindet immer tiefe Dankbarkeit, dass für vielen Menschen, nicht nur für seine Familie, der Frieden und die Freiheit heutzutage normal seien.

In der Folge konnten die Gottesdienst-Besucher ein Friedenslicht anzünden und auf den Altar stellen; zum Gedenken an die Toten und auch als kleines Zeichen für den Frieden für Familie, Stadt und Welt.Bei der Kranzniederlegung erinnerte Michalek an die Opfer von Gewalt und Krieg sowie an die Kinder, Frauen und Männern aller Völker. Gedacht wurde ebenfalls der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, sowie der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren. In Erinnerung rief sie auch diejenigen, die verfolgt und getötet, die wegen ihrer Behinderung oder Krankheit als lebensunwert bezeichnet, die wegen Widerstand gegen die Gewaltherrschaft ermordet und die wegen ihrer Überzeugung oder ihres Glaubens verfolgt wurden. Getrauert werde um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege der heutigen Zeit, des Terrorismuses, der politischen Verfolgung, des Hasses und der Gewalt gegen Fremde und Schwache sowie um die Bundeswehrsoldaten und Einsatzkräfte, die im Ausland ums Leben kamen. Das Leben stehe aber auch im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung zwischen den Völkern, weshalb es in der Verantwortung jedes Einzelnen liege, so Michalek, dass der Frieden zwischen den Menschen in das eigene Haus, aber auch in die Welt getragen werde.

Der Gottesdienst wurde mitgestaltet durch das Orchester und den Schülerchor der Goetheschule unter Leitung von Annett Steinberg, den Solo-Auftritt von Sören Schirmer und das Orgelspiel von Bettina Scherer. Bei der Kranzniederlegung sorgte die Bläsergemeinschaft Kuventhal-Einbeck für den musikalischen Rahmen.mru