Deutschland ist Einwanderungsland

Generalsekretärin von amnesty international war zu Besuch im StadtMuseum

Einbeck. In der Reihe »Frauengeschichten - Vorhang auf für ....« stehen Frauen mit ihrer persönlichen Geschichte im Mittelpunkt. Dabei wird über subjektive Erfahrungen in Beruf und Privatleben gesprochen und nach den Möglichkeiten der Übertragbarkeit gesucht. Weiter geht es um Wünsche und Ziele sowie den Mut zur Veränderung, sowohl der persönlichen, aber auch der gesellschaftlichen Verhältnisse. In diesem Rahmen hatte die Stiftung Leben und Umwelt der Heinrich-Böll-Stiftung Niedersachsen Selmin Çalışkan, Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International, in das Einbecker StadtMuseum geladen. Nach der Begrüßung von Gudrun Voß, Amnesty International Einbeck, sprach Viola von Cramon, Bundestagsabgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen, mit Çalışkan über ihren Werdegang, Frauen- und Menschenrechte weltweit, Flüchtlingspolitik, das Leben in verschiedenen Ländern und den »Menschenrechts-TÜV«.

Çalışkan kam 1967 als Kind türkischer Gastarbeiter im nordrhein-westfälischen Düren zur Welt. Schon als Jugendliche half sie Migranten, bevor sie einen interkulturellen Mädchentreff in Bonn gründete. Auch war sie mehrere Jahre für die Frauenorganisation »Medica Mondiale« tätig, arbeitete in Afghanistan für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), und sie ist seit dem 1. März Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International. In der Familie wurde Çalışkan als Mädchen zwar ernst genommen, spürte aber auch den patriarchalischen Druck und die konservative Einstellung der Eltern. Sie war die Einzige, die weltbürgerlich und fortschrittlich eingestellt war und damit ständig aneckte, aber auch das Gymnasium absolvierte.

In der Schulzeit hatte die Generalsekretärin viele Freunde aus mehreren Nationen, und sie wuchs teilweise auch bei der benachbarten Familie in der Backstube auf. Zwar hatte sie früher schon oft das latente Gefühl, nicht dazuzugehören, doch lernte sie neben dem türkischen Kosmos in ihrer Famlie auch die deutschen Abläufe kennen, sozusagen ein ständiges Pendeln zwischen den Welten mit der jeweiligen Einstellung zum Leben und zur Arbeit.

Dankbar ist sie bis heute der Bäckersfrau, die ihr half zu lernen und das ­Gymnasium zu schaffen, was damals für ein türkisches Mädchen keine Selbst­verständlichkeit war. Während sie oft in ihrer Familie die Hilflosigkeit im Alltag sah, unter anderem bei Übersetzungen bei Behördengängen, aber auch die »deutschen« Ansätze, sah sie Perspektiven, wo was zu verbessern sei, um ihr Leben zu stärken und den Eltern das Ankommen in Deutschland zu erleichtern.

In der Folge entwickelte sich bei ihr auch ein Gerechtigkeitsgefühl, und sie gründete schon früh den interkulturellen Mädchentreff in Bonn. Gemäß des Mottos »Mädchenräume für Mädchenträume« wird dort seit 25 Jahren gute Arbeit geleistet, die schon vielen jungen Frauen in zahlreichen Bereichen geholfen hat, auch in Bezug auf die eigenen Rechte.

Nachdem in den 1960ern viele Gastarbeiter nach Deutschland gekommen waren, um zeitlich befristet zu arbeiten, gab es Ansätze der Vermischung, Völkerverständigung und der Verwurzelung, doch habe sich dies mit dem Anwerbestopp 1973 verändert, erklärte Çalışkan. Binationale Beziehungen wurden weniger, die Arbeitsmigranten trafen sich nur noch unterein-ander, das Klima verschlechterte sich, und viele Zugereiste fühlten sich als Außenseiter.

Seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 hätte sich das Klima noch weiter verschlechtert, so die Generalsekretärin, da vor allem die Angst vor Personen mit muslimischer Religionszugehörigkeit medial geschnürt werde. Deutschland habe eine bewegte Geschichte und setzte sich intensiv mit der eigenen Historie auseinander, doch sei es auch ein Einwanderungsland. Viele Bürger mit Migrations- hintergrund seien nicht mehr fremd, sondern lebten seit Geburt in »ihrem Land«, auch wenn sie oft noch als Nicht-Deutsche angesehen werden.

Es gebe viel Rassismus gegenüber Minderheiten in der Mitte der Gesellschaft, nicht nur vom rechten Lager, doch werden selbst gewinnbringende Forschungsergebnisse nicht angewandt oder in die gesellschaftliche Diskussion gebracht, was die Generalsekretärin anmahnte. Stattdessen wende die Polizei zum Beispiel Stereotypen bei der Täterfindung an, doppelte Staatsbürgerschaften gelten als kulturelles Problem und es werden oft Bilder über Flüchtlinge kreiert, die polarisieren und nicht der Wahrheit entsprechen.

Çalışkans Wunsch seit vielen Jahren ist die interkulturelle Öffnung der Regeldienste, so dass Migranten in Pflegedienststellen, kirchlichen Einrichtungen, Krankenhäusern oder Ämtern nicht nur als Putzfrauen, sondern als qualifiziertes Personal arbeiten, so wie zum Beispiel in der fünfsprachigen Seniorenbetreuung in Wuppertal, die sie mit aufgebaut hat. »Alles, was auf Augenhöhe zusammenbringt, ohne dass eine Seite etwas aufgibt, müsse gefördert werden«, forderte Çalışkan. Ihr gefalle die Aussage von Markus Löning, Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe, der statt von Integration von Partizpation spreche, was der richtige Ansatz sei.

Türkisch als Wahlfremdsprache an den weiterführenden Schulen könnte ebenfalls helfen, die Teilhabe in der Gesellschaft zu fördern. Als Diplom-Dolmetscherin habe sie die spanische und englische Sprache gelernt, und sie bei Besuchen und Einsätzen in vielen Ländern angewandt, doch könne nur der, der die Muttersprache beherrsche, eine andere gut lernen, um sich auszudrücken. Aus diesem Grund helfe es vielleicht, an Schulen neben Französisch, Englisch und Spanisch auch Türkisch anzubieten, was auch die gesellschaftliche Akzeptanz fördere.Weiteres Thema des Gesprächs war die schwierige Situation in der Türkei, wo sich Demonstranten für mehr Liberalität und westliche Orientierung einsetzen, gleichzeitig aber mit Polizeigewalt und Menschenrechtsproblemen konfrontiert werden. Auch sei es demütigend, wie das Land bei den EU-Beitrittsverhandlungen seit vielen Jahren nur hingehalten werde, als ob es ein ungewollter Partner sei.

Von den 1,3 Millionen Vertriebenen des syrischen Bürgerkrieges wolle die Bundesregierung insgesamt nur 5.000 aufnehmen, was unverständlich sei. Zusätzlich nehmen Staaten im Rahmen des Resettlement-Programms jährlich eine festgelegte Anzahl von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen auf, was in Deutschland bisher nur 300 waren, in der USA hingegen 60.000.

Als Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland setzt sie sich auch für den Menschenrechts-TÜV ein. Ziel ist es, dass alle Projekte der deutschen Regierung im Ausland wie Waffenlieferungen oder Polizeischulungen darauf überprüft werden, ob Menschenrechtsfragen ausreichend Berücksichtigung erfahren. Da das Thema ständig präsent sein müsse, um zu wissen, was es bedeutet und die Rechte der Menschen zu respektieren, wurde es vor der Bundestagswahl an alle Parteien geschickt, um sich damit zu befassen, dazu zu äußern und hinterher an den Aussagen gemessen zu werden.mru