»Die Welt muss mehr sein als Messbares«

Astrophysiker, Naturphilosoph und Moderator Professor Dr. Harald Lesch bei der St. Alexandri Stiftung

Sehr gut besucht war die Münsterkirche St. Alexandri beim Vortrag von Professor Dr. Harald Lesch zum Thema »Wissenschaft und Religion – ein Widerspruch?!«. Interessant und kurzweilig beleuchtete der Astrophysiker und Philosoph auch Glaubensfragen.

Einbeck. Wissenschaft und Religion, das passt für ihn zusammen. Der Astrophysiker, Naturphilosoph und Moderator Professor Dr. Harald Lesch war jetzt zu Gast in der Einbecker Münster­kirche. Die St. Alexandri Stiftung hatte zu einer Vortragsreihe eingeladen, und die Themen, die darin aufgegriffen würden, seien auch die Inhalte, die die Stiftung beschäftigten, sagte Dr. Henning von der Ohe vom Kuratorium in seiner Begrüßung in der sehr gut besuchten Kirche.

Die Stiftung habe das Ziel, das kirchliche Leben zu bereichern. Man beobachte, dass die Verunsicherung zunehme, nicht nur angesichts von Fake News. Wissenschaftliche Erkenntnisse würden ignoriert, Werte gingen verloren – das beschäftige die Menschen. Harald Lesch, seit 1995 Professor in München an der Ludwig-Maximilians-Universität und an der Hochschule für Philosophie, sei jemand, der Antworten darauf geben könne – und das ist ihm gelungen, unterhaltsam und kurzweilig.

Ein Astrophysiker gucke längst nicht mehr durchs Teleskop, umriss Professor Lesch einen Teil seiner Tätigkeit. Astronomie habe ihre Romantik verloren. Er selbst, berichtete er, gehöre als Analytiker mit Bleistift und Papier zu einer »aussterbenden Sorte«. Grenzfragen zu Philosophie und Theologie interessierten ihn, stellte der gläubige Protestant fest »Ist die Welt gewollt oder Zufall?«

Die Digitalisierung, viel beschworen, betreffe das Menschenbild und die Urteile direkt. Ein unglaublicher Korpus an Wissenschaft sei schon vorhanden, es gebe ein Allerkleinstes und ein Allergrößtes, und Physik setze gültige Werte.

Der Mensch habe sich schon in der Antike gegen die Götter aufgestellt, wollte wissen, wie die Welt funktioniere. Er könne eine Hypothese aufstellen und eine Prognose, aber letztlich entscheide das Experiment über eine Theorie. Das habe den Zugriff auf die Natur möglich gemacht. Die Kirche habe damit die Deutungshoheit über die Naturwissenschaften verloren.

Am Anfang ging es Physikern um die Bewegungen am Himmel, Erscheinungen konnten genauestens berechnet werden. Als klar wurde, dass sich nichts um die Erde dreht, sei ein theologisches Gebäude zusammengebrochen. Die Inhalte der Bibel konnte man rationalisieren, und in der Folge wurden die Naturwissenschaften erfolgreich. Mit Experimenten sei es gelungen, ganz tief in die Natur hineinzuschauen. Mit den Methoden der Natur­wissenschaften wollte man erforschen, was vor dem Urknall war – es gebe allerdings keine Antworten, keine messbaren Größen. Naturwissenschaften zeichneten sich dadurch aus, dass sie weitgehend objektiv seien.

»Ist das nicht irre?« fragte er, als er über die Herkunft des Menschen berichtete: »Wir bestehen aus Sternenstaub.« Aus Naturgesetzen könne man den Ursprung des Universums ableiten, das entstanden sei vor rund 13 Milliarden Jahren, »an einem Samstagabend«, schmunzelte er. 25 Millionen Jahre sei es her, dass sich Kontinente verschoben hätten, dass Indien sich bewegt und sich das Klima in Ostafrika verändert habe.

Alle Fragen habe man geklärt, aber nicht eine einzige Frage des Lebens sei betroffen. Ein Individuum stelle sich Fragen, die in der Naturwissenschaft nicht vorkämen. »Bei Messwerten sind wir richtig gut«, die Physik sei eine sinnfreie Angelegenheit. Wenn aber der Mensch eine Ansammlung von Elementar­teilchen sei, unterscheide er sich nicht von dem Material, auf dem er sitze.

Wenn man glaube, dass die Welt gewollt sei und von Mit- statt von Umwelt spreche, »das wäre ein Hammer: Das gibt der Natur Würde.« Wissenschaft bilde aber nur einen winzigen Teil ab. »Sie sind der Messapparat des eigenen Lebens«, wandte er sich an die Zuhörer, und da gebe es Dinge, die völlig unmessbar seien: Erfahrungen, Erlebnisse, Hoffnungen, Wünsche. »Die Welt muss mehr sein als Messbares.« Jede Persönlichkeit könne sich im Rahmen der Naturgesetze frei entscheiden, und das sollte sie sich nicht nehmen lassen, auch nicht durch Algorithmen. »Deep learning nimmt uns Entscheidungen ab, warnte er. Der technische Ausfluss der Quantenmechanik, die Digitalisierung und das Sammeln von Daten, werde überall eingesetzt – Urteile seien in der Folge nicht mehr begründet und nicht mehr zu diskutieren. Man wisse nicht, wie ein Algorithmus seine Lösungen finde. Und welches Bild von der Welt solle man haben, nach welchen Werten werde gelebt? Da sei ein faustischer Paket mit den Zahlen geschlossen, über den öffentlich wenig geredet werde. Lesch plädierte dafür, Verantwortung als Christ zu übernehmen und zu sehen, dass das christliche Bekenntnis etwas verlange. Die Welt sei nämlich keine Computersimulation. Außerirdische würden vermutlich feststellen, dass die Menschen sich nur ­hätten um ihr Paradies kümmern müssen. Das Universum sei eine »außerordentlich leere Angelegenheit«, so etwas wie die Erde habe man draußen noch nicht gefunden. Hier laufe ein unglaubliches Zauberwerk von Prozessen ab, »Sowas wie Sie gibt’s nur einmal«. Schon der Aufbau eines Virus könne kein Zufall sein. Die Natur sei nach Gesetzen strukturiert, und sie seien die Voraussetzung dafür, dass es die Menschen gebe. Bei dessen Rolle verwies Lesch auf den Korintherbrief: Der Mensch stehe für Glaube, Liebe, Hoffnung, ohne ihn würden diese drei wichtigen Dinge im Universum fehlen.

»Persönlichkeit ist nicht nur das, was im Gehirn ist«, erläuterte er in der anschließenden Diskussion. Für die Zukunft der Welt wünsche er sich eher eine ethische als eine technologische Diskussion, einen vorsichtigeren Umgang mit den Ressourcen und der Um- beziehungsweise Mitwelt. Man wolle immer schneller mit Technik Probleme lösen, die man ohne Technik gar nicht hätte. Die Auseinandersetzung mit dem Glauben an Gott sei fruchtbar. Die Existenz Gottes sei nicht ausgeschlossen und nicht bewiesen, aber sie sei auch nicht nicht bewiesen. Zum Satz »Ich glaube an Gott« gehöre für ihn auch »Gott glaubt an mich.« Man sollte ruhig mal mit dem christ­lichen Pfund wuchern: »Fürchtet euch nicht.« Der Zwiespalt zwischen Naturwissenschaften und Religion sei aufgebaut worden. Ziel sollte ein gedeihliches Weiterleben auf dem Planeten auch in Zukunft sein, und er halte es mit dem »kategorischen Imperativ« seiner Großmutter: Man müsse sich so verhalten, dass man sein Spiegelbild morgens nicht an­spucken müsse. Sich für die Welt verantwortlich zu fühlen, sei für ihn religiös.

Die Freiheit des Willens sei eine der wichtigsten Bedingungen, Mensch zu sein. Digitali­sierung dürfe keine Räume unbeschränkten Irrsinns schaffen, man sollte nicht wie die Lemminge in diese Richtung laufen. Einen Slogan wie »Digitalisierung first, Bedenken second« sehr er als Angriff auf den Verstand. Künstliche Intelligenz könne nur in Verbindung mit Menschen schädlich oder unschädlich sein. Sie sei gut für schnelle Datensammlungen – von ihr lernen könne man nichts, und man dürfe sie niemals entscheiden lassen. Entscheiden müsse der Mensch.ek