Eine gelebte Liebeserklärung an William Shakespeare

Theater für Niedersachsen präsentierte sämtliche Werke des britischen Genies in 80 Minuten auf dem Marktplatz

Das Gesamtwerk von William Shakespeare, also 38 Theaterstücke, 154 Sonette, 1.834 Rollen und 120 Stunden Aufführungszeit, präsentierten Moritz Niklaus Koch, Dennis Habermehl und Dieter Wahlbuhl vom Theater für Niedersachsen (TfN) in gekürzter Version in 80 Minuten auf dem Einbecker Marktplatz. In der Inszenierung von Jörg Gade zeigten sie mit klugen Zusammenfassungen, leichten Veränderungen, situativen Improvisationen und Adaptionen in die Moderne ihre Versionen von Shakespeare, die von rasanten und komischen Aspekten des britischen Genies gespickt waren, gemixt mit mittelalterlicher und moderner Sprache.

Einbeck. Mit der Präsentation von »Shakespeares sämtlicher Werke, leicht gekürzt« wagt das TfN den Schritt zur Urform des Theaters: Das Stück wird ausschließlich als mobile Theaterwagen-Produktion auf öffentlichen Plätzen gespielt, und es ist eine Liebeserklärung an »die Bretter, die die Welt bedeuten«.

Die Ursprünge der komprimierten Fassungen von Shakespeares Werken tauchten 1981 erstmals auf, als eine selbst verfasste halbstündige Vier-Personen-Version von »Hamlet« in San Francisco dargeboten wurde. In der Folge bildete sich die »Reduced Shakespeare Company«, die sich mehrerer Kompositionen des Genies annahm. 1987 präsentierte sie in Edinburgh erstmals »The complete works of Wiliam Shakespeare«, was zu großen Erfolgen und vielen internationalen Gastspielen führte. Die deutsche Erstaufführung fand im Oktober 1997 in Essen statt, und sie begeisterte sofort das Publikum. Seitdem hat sich die gekürzte Fassung, wie sie jetzt auch das TfN in Einbeck präsentierte, zu einem Spektakel entwickelt, das schnell eine Art Kultstatus erzielte.

In der Inszenierung versucht Gade den Brückenschlag zu den Wandertheater-Traditionen auf antiken Marktplätzen, bei denen ohne Maske, ohne Tonverstärkung und mit minimal technischem Aufwand die Schauspieler turbulent, laut, grob, mit direktem Kontakt zum Publikum, interaktiv, situativ und komödiantisch agieren. Dabei haben die Akteure gewollt mehr »Narrenfreiheit« als sonst: Sie dürfen wie zu Shakespeares Zeiten ohne Hemmungen aus sich raus gehen oder marktschreierisch sein. Mit viel Enthusiasmus und großer Lust leben die Schauspieler die Stücke von Shakespeare, und sie tauchen in die jeweiligen Charaktere ein, die sie mit Leben füllen.

Bei freiem Eintritt auf dem Einbecker Marktplatz war es das Ziel der Akteure, den Zauber, die Genialität und die überragende Größe von Shakespeares sämtlichen Werken verständlich offenzulegen und dafür in unzählige Rollen zu schlüpfen. Hierbei wagten sie das nahezu Unmögliche, die verschiedenen   Stücke und Charaktere aus Romeo und Julia, Hamlet, Macbeth sowie aus den Komödien, Tragödien und Königsdramen miteinander zu verzahnen. 1.834 Rollen darzubieten, scheint nicht realisierbar, doch schafften Koch, Habermehl und Wahlbuhl dies unterhaltsam und abwechslungsreich, sogar nur zu dritt. Bei der »sehr kurzen« Fassung von Romeo und Julia sprangen sie von einer Szene zur anderen, inszenierten theatralisch die jeweiligen Passagen, verglichen die Hauptakteurin mit Amy Winehouse oder taumelten liebeskrank über die Bühne. Selbst bei Adaptionen in die Neuzeit oder gespielten Irrungen und Texthängern, wie »was machen wir jetzt«, unterstrichen sie mit mittelalterlicher Sprache die jeweiligen Abläufe bis hin zur Wirkung des Liebestranks und seiner Folgen: »Romeo and Juliet are finally dead«.

Um 400 Jahre alte und »völlig verstaubte« Stücke zu präsentieren, modifizierten sie das Ambiente. Als Möglichkeiten standen ein Streichelzoo oder der Mond zur Verfügung, doch wählten die Akteure ein TV-Küchenstudio, in dem Wahlbuhl »Titus Andronicus« als »Maitre de la Cuisine« skizzierte, der sich seine Hand abgehackt und seine Söhne sowie die »Töchter von Windsor« umgebracht hat. Das Schurkenhaupt präsentierte er dem Publikum, wie auch die Menschenkopfpastete, und er überlegte, ob Shakespeare als junger Autor wohl eine Quentin-Tarantino-Phase gehabt hätte.

Bei Othello, dem »maximal pigmentierten Bürger mit Migrationshintergrund« aus Verona, hatten sie ihre Skepsis, da sie meinten, dass sie nicht die körperlichen und psychischen Möglichkeiten zur innbrünstigen und politisch-korrekten Wiedergabe hätten, so dass sie sich schnell den 16 Komödien widmeten. Darin habe Shakespeare funktionierende Elemente immer wieder benutzt, so dass eigentlich nur ein gesammeltes Werk gereicht hätte. Unter dem Titel »Liebesdampfer aus Verona« boten sie in schneller Abfolge Passagen aus den komödiantischen Stücken, in denen, gemäß der Tradition der »Comedia dell’Arte«, skurrile Szenen sich mit historischen und alltäglichen Gegebenheiten abwechselten. Unter anderem hatte Peer Steinbrück einen Auftritt als Monster oder die Töcher des Herzogs wurden zu Playboy-Bunnys, garniert mit musikalischen Einlagen.

Da aber auch Tragödien oft komischer als Komödien seien, inszenierten sie diese mit gekonntem Witz. Der romantische Thriller »Antonius und Kleopatra« oder das geopolitische Werk »Julius Ceasar« fanden ebenso Berücksichtigung wie »Die zwei noblen Vettern«, die sich angeblich auf Russland und das Unglück von Tschernobyl beziehen.

Als Apokryph, also als zweifelhaftes und fast vergessenes Problemstück, thematisierten sie Troilus und Cressida, das sie nicht nach der »Old School«-Tradition, sondern als experimentelles Tanztheater zeigten, gepaart mit ausruhenden Schlafphasen, wenn »Agamemnon« erwähnt wurde. Weiter berührten sie Macbeth nur kurz, hinterfragten, warum der britischen Genius nicht an Schulen frisch und peppig gelehrt werde, damit die Jugendlichen ihn erleben können, und sie inszenierten fußballerisch die Königsdramen. Von einer Radioreportage untermalt, erhielt Richard III. einen Steilpass, fällte Heinirch IV. ein Foul, wurde König Lear eingewechselt oder schoss Heinrich VIII. einen Elfmeter und köpfte seine Frau. Zum Schluss der Sequenz waren sich alle einig: »Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin.«

Fast vergessen hätten sie in der vollzähligen Aufzählung Hamlet, dessen erhabener Poesie sie sich ausführlich widmeten. Obwohl Koch zuerst keinen »Menschen mit Menstruationshintergrund« präsentieren wollte und es zu gespielten Tumulten sowie Verfolgungsjagden durch das Publikum, über den Marktplatz und bis in anliegende Bars kam, gefolgt von dem gespielten Asthma-Anfall, ließ er sich schließlich doch noch erweichen, die Ophelia zu interpretieren. Gemäß der Aussage »Hamlet, remember me« thematisierten sie, dass »etwas faul im Staate Dänemark sei«, es die »wahre Leidenschaft der Liebe gebe«, dass man sich Worte in den Kopf schlagen könne oder, wenn ein »Schauspiel erklinge, es den Charme und Stil des gewissen Etwas erbringe«. Aufgefordert mit der Aussage »Dieter, spiel es noch einmal«, präsentierte Wahlbuhl den bekannten, belastenden und emotionsbeladenden Monolog inklusive der »Sein oder Nichtsein«-Frage. Zum Abschluss banden sie das Publikum mit ein, sie teilten Ophelias Charakter à la Sigmund Freud in »Ich«, »Über-Ich« und »Es« ein und projizierten die Parts auf die Zuhörer. Das »Ich«, gespielt von der Vorsitzenden des Kulturausschusses, befand sich stetig auf der Flucht und musste über die Bühne laufen, während das »Es« die »armen Socken« der ersten Reihen waren. Mit schwingenden Armen waren sie auf der Suche nach Alternativen und sagten »Kann sein, kann nicht sein«. Das Super-Ego des »Über-Ichs« hingegen war so komplex, dass die hinteren Reihen nochmals in den verzweifelten männlichen Teil (»Geh in ein Kloster«), die Stimme der Eitelkeit (»Drei Pfund Schminke ins Gesicht«) und die emanzipierte, erfolgreiche Weiblichkeit mit Nachwuchswunsch (»Schluss mit dem Scheiß. Meine biologische Uhr ist am Ticken. Ich will ein Baby, sofort.«) eingeteilt wurden, um alle Elemente gezielt zu vereinen. Die entwickelte Symphonie der Bausteine musste energetisch zusammenspielen, damit Ophelia (Koch) sich in ihrem ekstatischen Schrei manifestieren konnte, was auch gelang.

Selbst als die Schauspieler skandierten »Ihr könnt nach Hause gehen«, blieben die Zuhörer auf ihren Plätzen, denn sie waren begeistert und fasziniert von der Inszenierung. Als Folge titulierten die Akteure Einbeck als Welthauptstadt des interaktiven Theaters, und sie überlegten, im kommenden Jahr wiederzukommen.mru