Eine Speise und Arznei zugleich

Pflanzenporträt: Die Wilde Möhre gedeiht in ganz Mitteleuropa / Essbare Wurzel

Anstrengend war das Leben eines Kaisers vor 1.200 Jahren. Pausenlos war Karl der Große (742 bis 814) samt seinem Hofstaat in dem riesigen Reich unterwegs, belohnte, strafte und verschwand wieder. Weil man nie wusste, wo er als nächstes auftauchen würde, war es für seine Untertanen überaus ratsam, seinen Verordnungen Folge zu leisten. Dazu gehörte auch das »Capitulare de villis«. Dieses Schriftstück enthält Anbaurichtlinien für Karls Landgüter und nennt 16 Obst- und Nussbäume sowie 73 Gemüse, Stauden und Kräuter, darunter die Möhre. Sie durfte nicht fehlen, war sie doch Speise und Arznei zugleich.

Einbeck. Die Wilde Möhre (Daucus carota L.) gedeiht in ganz Mitteleuropa auf mäßig trockenen Böden, auf Wiesen, Magerrasen und an Wegrändern. Sie ist zweijährig. Im ersten Sommer entwickeln sich nur die Blattrosette und die fleischige, weiße Wurzel. Erst im folgenden Sommer wächst ein verzweigter bis zu zwei Meter hoher Stängel hervor, der zahlreiche weiße Blütendolden trägt. In der Mitte jeder Dolde befindet sich eine unfruchtbare, schwarzpurpurne »Mohrenblüte«. Daran kann man die Wilde Möhre leicht von anderen weißblühenden Doldengewächsen unterscheiden.

Zur Fruchtzeit zieht sich die Dolde vogelnestartig zusammen. Die Früchte sind etwa vier Millimeter lang, eiförmig und mit Stacheln versehen.

Die weiße Wurzel ist essbar und wohlschmeckend. Sie wirkt harntreibend, reinigend, entzündungshemmend und appetitanregend. Man verwendet den gekochten Brei bei Husten, Heiserkeit und sonstigen Halsbeschwerden. Verbrennungen (auch Sonnenbrand), Entzündungen und Hautausschlag behandelt man mit dem rohen Brei. Dieser soll auch bei faltiger Haut helfen. Allerdings sind allergische Reaktionen möglich. Gesammelt werden die Wurzeln von Juli bis Oktober.

Im Juli/August schneidet man die reifen Dolden ab und bündelt sie. Die Büschel werden im Schatten getrocknet, danach geklopft und gesiebt. Vier Gramm Samen auf 100 Milliliter Wasser ergeben einen appetitanregenden und verdauungsfördenden Tee, von dem man eine kleine Tasse vor oder nach den Mahlzeiten trinken sollte.Neben der Wildform mit weißen Wurzeln gibt es eine gelbwurzelige Formengruppe aus Kleinasien und eine purpurrote aus Afghanistan. Natürliche Kreuzung und züchterische Bearbeitung haben die Kulturmöhre hervorgebracht. Das Zuchtziel lautete: süß, saftig und viel Carotin. Letzteres ist als Provitamin A für Tiere und Mensch unerlässlich für ein normales Wachstum sowie für die Funktion von Haut und Augen. Es kann als fettlöslicher Stoff nur in Verbindung mit Fett wirken. Also genügt es nicht, eifrig rohe Möhren zu kauen, etwas Butter oder Öl muss schon dabei sein!

Üblicherweise erntet man Möhren im ersten Jahr. Im zweiten Jahr wird die Wurzel holzig, weil die ganze Kraft in die Entwicklung der Dolden gesteckt wird. Diesen fehlt die dunkle Mohrenblüte der Wildform.Mit einer Weltjahresproduktion von über zehn Millionen Tonnen steht die Möhre an dritter Stelle der Frischgemüse-Pflanzen.

Karl der Große und sein Gefolge hätten in der heutigen Zeit mit Sicherheit kein Problem, sich an jedem Ort ihrer Reise mit Möhren zu versorgen. Frisch auf den Tisch, aus der Dose oder dem Gefrierfach gehört die gezähmte Form der Wilden Möhre zum täglichen Brot.

Ingrid Mülleroh