Elf Gemeinden feierten 1905 Einbecker Nachbarschaft

Schaffer und Kranzjungfern im Einsatz / Hänselgeld als Eintritt zu fremden Festen / Pro Straßengemeinde drei Umzüge organisiert

Nachdem das letzte große Nachbarschaftsfest schon 25 Jahre zurück lag, gelang es dem Einbecker Kaufmann Albert Ohnesorge, das »beliebte althistorische Nachbarschaftsfest« für 1905 wiederzubeleben. Der Einbecker Bürgerverein ernannte eine Kommission, die sich auf die Suche nach Überbleibseln der Nachbarschafts-Tradition machen sollte. Man forschte nach Nachbarschaftsbüchern, Pokalen und anderen »Nachbarschafts-Utensilien«. Dabei stellte sich heraus, dass »die Sachen teilweise nach anderen Städten verschleppt wurden«.

Einbeck. Das Ergebnis der Suche konnte sich dennoch sehen lassen: Von der Breil- und Steinweg-Gemeinde fanden sich ein Buch, eine Truhe und eine Büchse (Gewehr), die Münsterstraßen-Gemeinde hatte noch ein Buch und einen Pokal, für die Wolperstraßen-Gemeinde fand sich zusätzlich zum Buch und dem Pokal auch ein Becher. Ähnlich sah es in den anderen acht Nachbarschaftsgemeinden aus. Nur die Maschenstraßen-Gemeinde und die Baustraßen/Bensertor-Gemeinde hatten keine Pokale mehr.

Die Kommission machte jetzt Nägeln mit Köpfen. Am 13. Februar 1905 stellte der Buchdruckereibesitzer Heinrich Rüttgerodt in einer Versammlung im Hotel »Herzog Erich« die Gretchenfrage: »Ob unser althistorisches Nachbarschaftsfest für immer begraben sein soll oder ob wir dasselbe unseren Nachkommen pflichtschuldigst überliefern wollen.« Und ob man wollte: Bereits einen Tag später beschloss die Münsterstraßen-Gemeinde einstimmig, noch 1905 ein Nachbarschaftsfest zu feiern. Noch während der Versammlung wurde ein provisorisches Organisationskomitee gewählt. In der Münstergemeinde fand sich auch noch älteres Nachbarschafts-Zubehör. Man übergab es »dem Altertumsmuseum und schloß eine bündige schriftliche Abmachung, daß die Sachen stets unantastbares Eigentum der Münster-Nachbarschaft bleiben.«Nachdem die Münsterstraßen-Gemeinde den Anfang gemacht hatte, zogen die anderen nach. Man wählte insgesamt 57 Personen, übrigens ausschließlich Männer, in den provisorischen Vorstand der elf Gemeinden. Jeweils ein Vertreter zog in die Einbecker Nachbarschafts-Kommission: Buchhalter Fr. Henne, H. Rüttgerodt, Weinhändler Albert Börries, A. Ohnesorge, Mechaniker H. Greve, Maurermeister Carl Schramm, Gastwirt Fr. Börries, Fabrikbesitzer Fr. Bense, Ökonom G. Henze sen., Stellmachermeister E. Reiche sen. und der Rentier Eduard Dörge.

Die Kommission wurde beauftragt, mit dem »wohllöblichen Magistrat« die entsprechenden Bedingungen zu verhandeln. Dazu gehörte unter anderem, geeignetes Grün aus dem Stadtforst und »den ganzen Tummelplatz unentgeltlich zur Verfügung zu stellen.« Auch sollte keine Vergnügungssteuer erhoben werden.Schnell einigte man sich auf einen Termin: Das Nachbarschaftsfest von 1905 sollte zwei Wochen lang, vom 12. bis 25. Juni, gefeiert werden. Jede Gemeinde bekam drei Festtage zugewiesen, einer davon war immer ein Sonntag. Die Reihenfolge wurde durch das Los bestimmt. Man einigte sich darauf, das Fest in »althergebrachter Weise« zu begehen. Das bedeutete, dass »die Stadt auf das Schönste geschmückt wird.« Jede Gemeinde wählte ihre Schaffer, die für die Zeit der Festivitäten für ihren Bezirk verantwortlich waren, und je einen Rechnungsführer. Die Häuser bekamen einen festen Dekorationsplan. Vor dem Haus eines Schaffers hatten beispielsweise zwei große und zwei kleine »Tannenbäume« zu stehen. Im Gegensatz zu früheren Festen wurden die Bäume nicht ins Straßenpflaster gesetzt, sondern »in Gefäße gepflanzt.« Die Grenzen der jeweiligen Gemeinden muss  -ten durch Girlanden oder ähnlichen Schmuck kenntlich gemacht werden. Je zwei aneinander grenzende Gemeinden sollten ihre Umzüge gemeinsam gestalten. Dabei war für jeden Umzug das Tanzen nach einer Musikkapelle Vorschrift. Das eigentliche Fest feierten die jeweiligen Gemeinden aber für sich alleine. Wenn jemand an einem fremden Nachbarschaftsfest teilnehmen wollte, musste er nachweisen, dass »er an dem Feste der eigenen Nachbarschaft teilnimmt.« Zum eigenen Fest hatte man freien Eintritt. Zu allen anderen musste man das »Hänselgeld«, 50 Pfennig pro Person bezahlen. Darüber hinaus hatte jeder Bürger 3,50 Mark für den Schafferkranz zu entrichten. Damit das Nachbarschaftsfest nicht zu einer reinen Markt-Veranstaltung wurde, beschränkte die Platz-Kommission die Zahl der »Schaubuden.«

Jeder Einbecker hatte sich an die Nachbarschaftsordnung zu halten. Diese hatte 26 Paragrafen, in denen Zweck und Durchführung der Veranstaltung genau geregelt waren: »Unser althistorisches Heimatfest, die Nachbarschaft, verfolgt den Zweck, den Einwohnern Einbeck´s Gelegenheit zu geben, sich kennen und schätzen zu lernen, sowie nachbarschaftliche Freundschaft und Einigkeit zu fördern.« Zur Vorbereitung des Nachbarschaftsfestes sollten sich alle Gemeinden mehrmals unter freiem Himmel versammeln. Jede Gemeinde wählte ihre Schaffer. Zur Wahl berechtigt waren alle unbescholtenen Einbecker ab 21 Jahre. Nach Möglichkeit sollten auch Schaffer vom letzten Fest vor 25 Jahren dabei sein. Wer zum Schaffer gewählt wurde, durfte nicht ohne triftigen Grund ablehnen. Der Schaffer wiederum wählte mindestens zwei Schafferjungfern und zwei Kranzjungfern. Jede Gemeinde feierte drei Tage, Nachfeiern waren verboten. Wer in seiner eigenen Gemeinde nicht mitfeierte, durfte auch nicht zu den anderen Festen gehen. Freien Zutritt zu allen Festen hatten die Schaffer, die Ratsmitglieder, und Kinder unter 16 Jahren. »Dienstboten und Fabrikarbeiterinnen, sofern sie nicht Söhne, Töchter oder Verlobte von Nachbarn sind, haben keinen Zutritt.«

Vor dem Umzug gingen die Kranzjungfern zu den Schafferjungfern. Gemeinsam versammelten sie sich danach beim Schaffer, bis die Gruppe von der Musikkapelle abgeholt wurde. Der Umzug begann an jedem der drei Festtage pünktlich um 14 Uhr. Am Festplatz angekommen, hielt der Schaffer eine Rede und las danach die Nachbarschaftsordnung vor. Das Fest konnte beginnen, und jeder Besucher bekam einen Willkommenstrunk. Während der Veranstaltung hatte man sich an die althergebrachten Sitten und Gebräuche zu halten. Dazu gehörte auch, dass man sich gegenseitig mit »Herr Nachbar«, »Frau Nachbarin« oder »Jungfer Nachbarin« anredete. Unterließ man dies, waren zehn Pfennig Strafe fällig. Überwacht wurde das Ganze vom Schaffer mit seinen Kranzjungfern. Während der drei Tage sollten mindestens drei Schaffer ständig im Festzelt anwesend sein. Die Erwachsenen hatten sich an die Tanzordnung zu halten. Für die Kinder waren »an jedem Festtage 2 Stunden des Nachmittags für Tanzbelustigungen zu reservieren, während welcher Zeit die Erwachsenen nicht tanzen dürfen.« Um 22 Uhr hatten alle Kinder die Veranstaltung zu verlassen. (Fortsetzung folgt)ek

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