Keine Familie ist ohne Geheimnisse

Kolja Mensing liest zum 9. November aus seinem Buch »Fels« | Familien- und Zeitgeschichte erforscht

Autor und Journalist Kolja Mensing (rechts) hat zum 9. November auf Einladung des Einbecker Stadtmuseums und des Fördervereins Alte Synagoge aus seinem Buch »Fels« gelesen; Dr. Elke Heege vom Museum und Fördervereins-Vorsitzender Frank Bertram begrüßten zahlreiche Zuhörer, und sie stellten den Gast vor.

Einbeck. »Man weiß ja, was damals passiert ist.« Dieser Satz seiner Großmutter hat Kolja Mensing beschäftigt. Der Journalist, Literaturredakteur und Schriftsteller hat sich auf Spurensuche in seiner Familie begeben, er hat Erinnerungen aufgeschrieben und aufwändig recherchiert.

Eine bewegende Geschichte ist so entstanden. »Fels« heißt das Buch, aus dem er im Stadtmuseum Einbeck anlässlich des 80. Jahrestages der Reichspogromnacht gelesen hat. Man wolle den Tag nach der Kranzniederlegung am Mahnmal nicht einfach so ausklingen lassen, sagten die Leiterin des Stadtmuseums, Dr. Elke Heege, und der Vorsitzende des Fördervereins Alte Synagoge, Frank Bertram.

Deshalb sei es schön, dass man Kolja Mensing für diese Lesung gewonnen habe, zumal er für sein Buch auch im Stadtmuseum beziehungsweise in Wenzen und Kreiensen recherchiert habe. Am liebsten, gestand er, hätte »immer weiter gewühlt« in den Archiven. Ausgangspunkt für sein Buch war die Tatsache, dass er stets viel Zeit mit seiner Großmutter verbracht habe, schon als Kind.

Sie habe gern von früher erzählt, und seine Lieblingsgeschichte sei die von der heimlichen Verlobung der Großeltern gewesen, Heiligabend 1943, zwar getrennt, aber ganz romantisch. Die Oma, damals 17 Jahre alt, war beim Reichsarbeitsdienst, ihr künftiger Ehemann Rudolf auf der Offiziersschule in Potsdam.

Eigentlich sollte die Verlobung im März 1944 gefeiert werden, aber Rudi hatte die Verlobungsringe schon auf dem Schwarzmarkt besorgt, und bei Eierlikör aus dem Zahnputzbecher, Ölsardinen und einer Freundin steckte sich die Oma den Ring selbst an - zu gleichen Zeit wie Rudi in Potsdam.

Und beide hätten in den gleichen Sternenhimmel geguckt. Diese Geschichte habe die Familie sehr gemocht. Kurz vor Kriegsende wurde 1945 geheiratet. Kennengelernt haben sich die Großeltern 1939, da war sie 13 Jahre alt. In der Schule wurden Feldpostadressen verteilt, die Mädchen sollten an die Front schreiben. Zunächst hatte sie einen anderen Briefpartner, doch der meldete sich eines Tages nicht mehr.

Eine ihrer Karten fand Rudi dann zufällig in einem aufgelassenen Lazarett, er schrieb zurück, und Pfingsten 1940 hat er sie zum ersten Mal besucht. Schnell wurde aus ihnen ein Paar. Als die Großmutter mit Mitte 80 lange im Krankenhaus liegen musste, gab es viele Telefongespräche mit dem Enkel, und er hat die Gelegenheit genutzt, die Erinnerungen aufzuschreiben. Im Dorf der Großmutter lebte Albert Fels, Onkel Fels, wie die Kinder ihn nannten. Er wohnte beim benachbarten Fleischer in der Kammer, ein alter kranker Mann, ein Trinker.

Er war Jude, und irgendwann sei er weg gewesen, so die Erinnerung. Im Delirium sei es in eine Landesheil- und Pflegeanstalt gebracht worden. Man wisse ja, was damals passiert sei, fügte die Großmutter hinzu. Albert Fels, davon müsse man ausgehen, sei Euthanasie-Opfer geworden; jüdische Patienten waren die ersten, die dort getötet wurden. Andernfalls wäre er in ein Vernichtungslager gekommen.

Nationalsozialismus und Konzentrationslager in jenen Jahren, da sei immer abgegrenzt worden zwischen Politik und Privatem. Auf die eigene Geschichte sei ein Schatten gefallen, der über Jahrzehnte geschützt wurde. Er habe sich, so Kolja Mensing, dafür interessiert, wer Albert Fels gewesen sei, und er habe seine Herkunft untersucht. Er kam aus Wenzen, dort gebe es einen 200 Jahre alten jüdischen Friedhof, und der Name tauche dort auf. Ein Vorfahr sei aus dem Hessischen zugewandert; Itzig Fels, geboren 1828, war einer der Nachkommen. Das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel bot damals großzügigere Bedingungen für Juden an.

Er arbeitete als Schlachter und Fellhändler. Albert wurde 1870 in diese arme Familie geboren. 1877 zog die Familie nach Kreiensen; durch die Bahnverbindung war der Ort der Welt näher, und die Geschäfte liefen besser. Bald kam Viehhandel hinzu, und eine ehemalige Werkstatt wurde gekauft. Dort wurde ein Schlachthaus eingerichtet. Details wie diese hat der Autor im Einbecker Archiv gefunden.

200 Kilometer weiter westlich lebte die Familie von Simon Abraham Simon. Er richtete eine Schlachterei und einen Laden ein, und er suchte Angestellte. Albert Fels zog 1895 dorthin, in das Dorf von Mensings Großmutter. Als Simon Abraham Simon starb und seine Kinder den Betrieb nicht wollten, nutzte Albert Fels sein Erbe, das ihm bereits ausgezahlt wurde, und kaufte sich dort ein.

Komplizierte Familienzusammenhänge hat Mensing dabei aufgedeckt, zahlreiche Nebenlinien erforscht und Kontakte bis nach Südafrika geknüpft, um weitere Informationen zu bekommen. Fels hatte ein Frau, Betty, und eine Tochter namens Ilse. Die Ehe wurde 1913 geschieden, weil er ein Trinker war und die Frau misshandelt hatte.

Er musste Unterhalt zahlen, was in einem einmaligen Betrag geschah, und dazu musste er seinen Anteil am Geschäft verkaufen. Er wurde nun Angestellter bei seinem ehemaligen Partner. Knecht, wie die Großmutter das immer erzählt hatte, sei er nicht gewesen. Die Großmutter sei mit sechs Jahren in die NS-Maschinerie geraten. Sie sei aber gern im Bund Deutscher Mädel (BDM) gewesen, schätzte die Ideologie.

Das zu verstehen, habe bei ihm lange gedauert, räumte Mensing ein. Ihr Lieblingslied, »Es zittern die morschen Knochen«, sei typisch für diese Zeit, es habe das Gefühl von Aufbruch und Revolution vermittelt. Nach ihrem Tod mit fast 90 Jahren habe er die Geschenkausgabe von »Mein Kampf« gefunden, die das Paar im Januar 1945 zur Hochzeit gekommen habe. Sie sei sehr verliebt gewesen, aber die Liebe habe auch dunkle Zeiten gehabt.

Albert Fels sei der Schlüssel zu einer unbekannten Kammer in der Geschichte der Oma. Schließlich hat er auch recherchieren können, wie er ums Leben gekommen ist: Die Krankenakte hält fest, dass er im März 1938 in die Klinik kam und nach drei Tagen dort gestorben ist - wie, das sei etwas, das die Leser selbst herausfinden sollten.

Man habe, war Dr. Elke Heege beeindruckt, eine lebendige Geschichte gehört, die weitere Kreise gezogen habe. Aber die Familie Fels sei auch groß gewesen, bestätigte der Autor. Es sei schön, dass die Großmutter ihr Wissen noch geteilt habe, und häufig sei das mit der übernächsten Generation einfacher als mit der nächsten. Er sei froh, dass er so viel erfahren habe, stellte Kolja Mensing fest, »aber es gibt keine Familie ohne Geheimnisse.«ek