Für neue Orientierung auf dem Arbeitsmarkt sorgen

Gut besuchte Gewerkschaftskundgebung zum 1. Mai auf dem Möncheplatz

Unter das Motto »Gute Arbeit. Soziales Europa« hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) die Veranstaltungen zum 1. Mai gestellt. Fest­redner der sehr gut besuchten Kundgebung in Einbeck war Sebastian Wertmüller, Geschäfts­führer im ver.di-Bezirk Region Süd-Ost-Niedersachsen.

Einbeck. »Nur Hallo sagen, ist nicht mein Ding«, und so blickte der Vorsitzende des DGB-Kreisverbandes Northeim, Achim Wenzig, auf die Politik der vergangenen Monate. Es habe lange gedauert, bis nach der Bundestagswahl die Große Koalition zustande kam. Nun sei es interessant zu sehen, was von den großen Versprechungen vorab geblieben sei, etwa der Mindestlohn. Man könne fast denken, dass das eine Erfindung der Regierungsparteien sei, so Wenzig, dabei forderten die Gewerkschaften dies seit langem Er sehe angesichts der Ausnahmen, die man sich so nicht vorgestellt habe, eine Mogelpackung, löchrig wie ein Schweizer Käse. 1,8 Millionen Beschäftigte seien vom Mindestlohn ausgeschlossen. Er habe den Namen nicht verdient, und er sei dafür, dass Abgeordnete zwei Monate unter diesen Bedingungen arbeiten müssten – anschließend würden sie selbst zehn Euro Mindestlohn fordern, war Wenzig sicher. Das Thema sei jedenfalls für die Gewerkschaften noch nicht abgeschlossen, die dafür kämpften, dass die Menschen von ihrer Arbeit leben könnten – mit den demokratischen Parteien, notfalls aber auch gegen sie.

Gegenwind gebe es auch gegen die Rente mit 63, doch häufig schwadronierten dagegen Konservative, Liberale oder Arbeitgeberfunktionäre. Wenn es wirklich Facharbeitermangel gebe, werde kein Unternehmen seine Kräfte mit 61 Jahren in die Arbeitslosigkeit schicken, sondern mit attraktiven Angeboten zum Bleiben anhalten. Es müsse, forderte Wenzig, besseren Kündigungsschutz für Ältere geben. Er frage sich, ob die SPD zu geringen Kosten einen »formidablen Coup« gelandet oder nur ein Bonbon an die Gewerkschaften verteilt habe. Vielleicht habe sie aber auch Angst, dass die Reformbüchse wieder geöffnet werde, dabei sei das dringend nötig, Mütterrente und Rente mit 63 würden denen jedenfalls nicht helfen, die auf dem Weg in die Altersarmut seien.

Nicht 200.000 Beschäftigte im Jahr hätten nämlich Anspruch, sondern bei dieser schwarz-roten Mogelpackung seien es etwa 12.000 Arbeitnehmer jährlich, zudem nur in den Jahrgängen 1949 bis 1952. Er wolle den guten Ansatz nicht verteufeln, schränkte Wenzig seine Kritik an, aber ausreichend seien die Vorschläge nicht, zumal der Leistungsdruck immer größer werde. »Die Kollegen warten darauf, und es ist auch eine Wertschätzung, mit 63 und nach 45 Versicherungsjahren in Rente gehen zu können«, betonte er. Natürlich seien die Gewerkschaften weiter gegen Rente mit 67, dabei dürfe man ebenso wenig nachlassen wie beim Kampf für flächendeckenden Mindestlohn.

25 Jahre gutes Wetter bei Maikundgebungen in Einbeck, nicht nur daran erinnerte Sebastian Wertmüller, sondern auch an die schwere Katastrophe in Bangladesh vor einem Jahr mit 1.100 Toten und 2.500 Verletzten – Opfer hemmungsloser Profitgier, fehlender Sicherheitsmaßnahmen und fehlender Mitbestimmungs- und Gewerkschaftsrechte. Durch die Auftraggeber, internationale Billigketten, habe es bisher fast keine Entschädigung gegeben. Er finde es richtig, dass DGB-Chef Michael Sommer nach Bangladesh gereist sei, um die Überlebenden der Solidarität der internationalen Gewerkschaftsbewegung zu versichern. Vor zehn Jahren, so Wertmüller weiter, sei Europa durch die Osterweiterung größer geworden. Viele hätten das damals sehr kritisch gesehen, aber heute könne man feststellen, dass die Ostererweiterung ein wirtschaftlicher Erfolg sei. Sie habe für Wachstumsimpulse und eine Wohlstandssteigerung gesorgt.

Er wisse, fuhr Wertmüller fort, dass es auch bei den Gewerkschaften viele Europaskeptiker gebe. Milliarden für notleidende Staaten hätten dazu beigetragen. Aber nicht »die« Griechen, Spanier oder Portugiesen bekämen Geld, sondern deren Finanzsystem. Die Arbeitnehmer dieser Länder seien die Verlierer, mit Arbeitslosigkeit und massiven Kürzungen. Das sei das Europa des ungebremsten Wettbewerbs, das die Gewerkschaften nicht wollten, das Europa der Konkurrenz um die niedrigsten Löhne und Steuern. Das gewerkschaftliche Europa sei sozial, solidarisch, friedlich und ohne Ausgrenzung von Minderheiten. Er werfe den Europapolitikern vor, dass sie es geschafft hätten, dass ein positiver Ansatz zu einer Bedrohung für viele geworden sei. Milliarden würden versenkt statt vernünftige Politik mit Investitionen in Bildung und Infrastruktur zu betreiben. Für dieses andere, bessere Europa lohne es sich, wählen zu gehen, hob er hervor.

Nachdem früher mit Lust auf die schwarz-gelbe Koalition eingeprügelt wurde, könne man zum 1. Mai nun über eine neue Orientierung auf dem Arbeitsmarkt sprechen. Jahre des Raubbaus hätten Spuren hinterlassen, beispielsweise bei Leiharbeit, Minijobs, Befristung und Werksverträgen. Die Große Koalition lasse ein paar zarte Pflänzchen des Gegensteuerns erkennen, aber es seien noch viel zu wenig. Mindestlohn, Leiharbeit, Allgemeinverbindlichkeit – Arbeit habe nicht nur etwas mit Geld zu tun, sondern auch mit Würde, und auch einfache Arbeit verdiene Respekt. Ein Signal der Wertschätzung seien die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst. Von den Abgeordneten erwarte man, dass sie Voraussetzungen herstellten, damit Gewerkschaften mit den Arbeitgebern wieder bessere und sozialere Tarifverträge aushandeln könnten. »Wenn man in der Sackgasse steckt, hilft manchmal nur der Rückwärtsgang«. Entsprechend müsse die Politik das korrigieren, was sie in den letzten Jahrzehnten auf dem Arbeitsmarkt kaputt gemacht habe.

Man könne die Gesellschaft besser gestalten, betonte er. Gewerkschaften hätten Antworten. »Wir können das, aber niemand sollte uns Steine in den Weg werfen.« Leider sei der Fortschritt immer noch eine Schnecke. Aber vielleicht bekomme man wenigstens eine Schnecke auf Rädern.

Der stellvertretende Vorsitzende des DGB-Kreisverbandes Northeim, Peter Zarske, lobte die Rede von Wertmüller: Sie habe gezeigt, was die Gewerkschaften von Europa erwarteten. Da die europäische Politik auch Auswirkungen auf Deutschland habe, sollte man unbedingt zur Wahl gehen. Vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg, vor 75 Jahren der Zweite Weltkrieg: Der 1. Mai sei auch ein Tag, an dem die Gewerkschaften sich gegen Krieg aussprechen würden. Er sei froh, so Zarske, dass Europa seine Probleme politisch lösen könne. Es sei kein Platz für Kriegstreiber, Intoleranz und Rassismus. »Das bleibt unser Tag der Arbeit.«

Die Feier auf dem Möncheplatz wurde umrahmt von Tatjana und Marcus von der Band »Catuna Jam«; für Kinder wurden Schminken und ein Luftballonwettbewerb angeboten, bei der AWO gab es wieder Kaffee und Kuchen.ek