Im »echten« Leben mehr erleben

Goetheschüler befassen sich mit »Medienumgang auf höherem Level«

Das Internet ist aus dem Leben und Alltag nicht mehr wegzudenken: Neben umfangreichen Möglich­keiten und Chancen, die sich durch die Nutzung von Computern oder Internet ergeben, stellen sich zunehmend Risiken und Gefährdungspotenziale ein.

Einbeck. So können virtuelle Erlebnisse und Erfolge dauerhaft bedeutsamer als die Erfahrungen und Anforderungen des »realen« Lebens werden. Weiter haben zahlreiche Kinder und Jugendliche ein umfangreiches Angebot an Medien zur Verfügung, die nicht ihrem Reifegrad entsprechen. Dabei werden sie oft mit einer Fülle von destruktiven Inhalten im Netz konfrontiert, die sie nicht angemessen verarbeiten können. Neben verschiedenen problematischen Entwicklungen wie Antriebsminderung, körperlichen Folgen sowie schulischen oder beruflichen Problemen können sogar bei Jungen und Mädchen Abhängigkeitserkrankungen entstehen.

Um dem entgegenzuwirken, begleitet die Fachstelle Mediensucht »return« seit fünf Jahren Menschen, die sich im Bezug auf ihre problematische Mediennutzung Veränderungen wünschen. Dank der Unterstützung der Landesregierung und des vor Ort bekannten Politikers Uwe Schwarz, habe man den überregionalen Auftrag bekommen, sich in Niedersachsen um den Mediengebrauch von Kindern und Jugendlichen zu kümmern, erklärten Eberhard Freitag und Dietrich Riesen von »return«. Dabei werden Familien mit Konflikten in dem Bereich unterstützt, themenbezogene Suchtprävention angeboten, Fortbildungen durchgeführt, Ver­än­de­rungs­prozesse therapeutisch begleitet sowie die kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit Medieninhalten gefördert. Gemäß der Aussage »Return to reality – im ‘echten’ Leben mehr erleben« bietet die Fachstelle, die Gründungsmitglied des Fachverbands Medienabhängigkeit und vielfach vernetzt in der Sucht- und Jugendhilfe ist,  Hilfe bei Prävention und Fortbildung. Sie kümmert sich um Projekte und Veranstaltungen für Jugendliche und Eltern, Schulungen und Installationen für Filterschutz- und Zeitmanagementsoftware sowie um Fortbildungen für pädagogische und therapeutische Fachkräfte.

Da Aussagen wie »Ich kann meine Tochter nicht mehr erreichen, sie lebt nur noch im Netz«, »Wir haben ständig Stress zu Hause wegen der Nutzung des Computers« oder »Unser Kind spielt Tag und Nacht online, und er interessiert sich für sonst gar nichts mehr« immer häufiger auftauchen, stehe die Einbecker Goetheschule schon seit 2011 in Kontakt mit »return«. Marion Villmar-Doebling von Schulelternrat erklärte, dass es vor zwei Jahren einen Informationsabend zum Thema gab. In der schnelllebigen Zeit werde es immer wichtiger, schon früh die Weichen stellen, wie mit den Medien umzugehen sei. Dies auch vor dem Hintergrund, dass in vielen Familien beide Eltern arbeiten und so nicht kontrollieren können, ob der Nachwuchs nach der Schule seine Hausaufgaben bearbeitet oder maßlos die Medien nutzt.

Sie freute sich, dass Annette Junge-Schweigl vom gemeinnützigen Verein zur Förderung der Präventionsarbeit in Einbeck (FIPS) und Thomas Klammt von der Beratungsstelle für Lebens- und Beziehungsfragen als Kooperationspartner gewonnen wurden, um zusammen mit »return« das Präventionsprojekt »Medienumgang auf höherem Level - Schüler beraten Schüler« durchzuführen. Dabei wurden zuerst sieben Lehrer um Ansprechpartner Martin Baselt sowie Nadine Kühne und Matthias Maume für die Thematik sensibilisiert und sie eingearbeitet. Im Anschluss erfolgte das Prozedere dann mit 14 Schülern des zehnten und elften Jahrgangs, die ihr eigenes Nutzungsverhalten zuerst reflektierten, um dann die Problematik der Mediennutzung den Siebtklässlern näherzubringen. Da Jungen vermehrt spielen und Mädchen sich auf sozialen Netzwerken tummeln, agierten die Älteren Goetheschüler wie Patrick Zierdt, Linea Röhrig und Nicoletta Köhler in gemischter Zusammenstellung, so dass beide Ansätze beleuchtet werden.

Baselt erklärte, dass die Kinder und Jugendlichen klare Regeln brauchen, wie das Handyverbot an der Schule. Jedoch falle es vielen schwer, den ganzen Vormittag »offline« zu sein. Ihm pflichtete Freitag bei, denn es sei für viele wie ein Zwang, für die Clique jederzeit verfügbar zu sein. Sie denken, sie müssen »on« sein, um nichts zu verpassen oder stellten sich sogar früher den Wecker, um in Netzwerken nachzuschauen, statt sich für die Schule zu präparieren. Selbst banale Dinge werden »gepostet« oder beantwortet, um dazuzugehören, viele »Gefällt mir« zu bekommen oder »sozial« in der Gruppe mitzuschwimmen.

Kühne und Maume waren sich einig, dass die Regeln in der Schule wichtig seien, an die sich auch viele halten. Sicherlich gebe es jedoch eine hohe Anzahl von Schülern, die einen Vormittag ohne Medien nicht »aushalten können«. Deshalb müssten sich Eltern verstärkt mit der Problematik befassen und immer dran bleiben, so Klammt. Ein Kind sei nicht ein Außenseiter, wenn es ein spezieller elektronisches Gerät nicht habe, erläuterte Freitag, der auch empfahl, die Medienverfügbarkeit dem jeweiligen Reifegrad anzupassen.

Um die Sensibilisierung und die Nachhaltigkeit des Projektes an der Goetheschule zu stärken, wurde geplant, dass es zukünftig bei den Elternabenden von neuen Fünftklässlern Informationen der geschulten Lehrer zum Präventionskonzept und Hilfestellungen zum Mediengebrauch gebe. Zusätzlich soll das gut funktionierende Angebot »Schüler beraten Schüler« (»Peer to Peer«) auch in den kommenden Jahren an der Schule angeboten werden.

Gemeinsam thematisierten dabei die Älteren mit den Siebtklässlern – auch mit Fallbeispielen – die tägliche Mediennutzung, Computer- und Smartphone-Abhängigkeit, die Veröffentlichung von »Neuig­keiten« in sozialen Netzwerken, die kritische Auseinandersetzung mit der permanenten Online-Verfügbarkeit, den gedanklichen Zwang zu wissen, was die »Freunde« gerade machen, die Abwägung von Wichtigkeiten wie Hausaufgaben, die Vereinsamung, gesundheitliche Probleme durch zu wenig körperliche Beanspruchung außerhalb der digitalen Welt sowie Vernachlässigung von familiären oder freundschaftlichen Beziehungen. Die Schüler erkannten, dass eine Ausgewogenheit zwischen realen und virtuellen Aktivitäten wichtig sei, dass man im »echten« Leben mehr erleben kann oder dass Anlaufstellen (Vertrauenslehrer, Jugend- und Familienberatung oder die eigene Familie und Freunde) helfen können, die gestörte Nutzungsbalance wieder herzustellen, um wieder »mitten im Leben« zu sein.mru