»Jettchen« und Georg Hermann in die Gegenwart holen

Inge Hüttig und Heinrich Sprink rufen mit ihrer eindrucksvollen Lesung über »verbrannte Dichter« vergessenen Autor wieder ins Gedächtnis

Verbrannt wurden die Bücher, gemeint waren die Menschen: Am 10. Mai 1933 haben in Deutsch-land die Bücher gebrannt. Der Förderverein Alte Synagoge in Einbeck hat es sich zum Ziel gesetzt, an diesen Tag zu erinnern. Inge Hüttig hatte dazu in diesem Jahr »Jettchen Gebert«, einen Roman von Georg Hermann, ausgewählt. Die Lesung gestaltete sie gemeinsam mit Heinrich Sprink. Georg Hermann, ein Autor jüdischer Herkunft, ist heute kaum noch bekannt, seinerzeit waren die Bücher jedoch Bestseller.

Einbeck. Über ein volles Haus konnte sich der Vorsitzende des Fördervereins Alte Synagoge in Einbeck, Frank Bertram, freuen: Das Gebäude in der Baustraße bewies trotz der laufenden Sanierung einmal mehr, dass es für Veranstaltungen in diesem Rahmen sehr geeignet ist. Inge Hüttig, so der Vorsitzende, habe es sich zur Aufgabe gemacht, den Tag der Bücherverbrennung ins Gedächtnis zu rufen und des Unrechts zu gedenken. Drei Monate nach der sogenannten Machtergreifung hätten die Nationalsozialisten Bücher von ihnen verhassten Autoren ins Feuer geworfen – und die Menschen gemeint. Das könne man, so der Vorsitzende, nicht ungeschehen machen, aber man könne etwas gegen das Vergessen tun und den Namen ein Gesicht geben.

Eher zufällig sei sie, so Inge Hüttig, auf Georg Hermann aufmerksam geworden. Er wurde am 7. Oktober 1871 als Georg Borchardt, Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie, geboren. Der Vater galt gesellschaftlich als Versager und Bankrotteur. Die Familie sah ihn als unglücklichen und gebrochenen Mann, der den gestellten Anforderungen nicht gewachsen war. Das habe, so Hüttig, Georg Hermanns Leben geprägt, er habe stets Sympathie für die Schwachen gezeigt. Auch er fühlte sich als Versager, hatte er doch, kein Abitur abgelegt. Er bildete sich aber auf andere Weise: Er liebte naturkundliche Entdeckungen, sammelte Schmetterlinge sowie Kunst- und Gebrauchsgegenstände aus alter Zeit. So lassen sich seine genauen Schilderungen der Biedermeierzeit erklären, beispielsweise in »Jettchen Gebert«. Mit Mitte 20 widmete sich Hermann geschichtlichen und philosophischen Studien. Beschäftigt war er im Statistikamt in Berlin, doch bald konnte er von seiner schriftstellerischen Arbeit leben. Sein literarisches Werk sei umfangreich und breit gefächert: 1999 erfuhr sein 21-bändiges Gesamtwerk eine Neuauflage. Der Doppelroman »Jettchen Gebert« und »Henriette Jacoby«, erschienen 1906/08, war sein größer Erfolg mit zusammen mehr als 260 Auflagen, ein Bestseller jener Zeit. Den Nationalsozialisten war Hermann verhasst. Schon früh wurde im »Völkischen Beobachter« gegen ihn gehetzt. Nach dem Reichstagsbrand 1933 trat er die Flucht nach Holland an. Hier musste er sich allerdings mit finanziellen Sorgen auseinandersetzen. Nach der Besetzung der Niederlande durch die Deutschen wurde der Herz- und Zuckerkranke zunächst nach Amsterdam und dann ins Lager Westerbork gebracht, anschließend wurde er am 17. November 1943 nach Auschwitz deportiert. Als Todestag gilt der 19. November 1943.

»Jettchen Gebert« ist ein historischer Roman. Der Handlungsstrang ist eher einfach, es taucht immer wieder das Motiv »Alles kommt, wie es kommen muss« auf – eine Grundüberzeugung Hermanns, wie Inge Hüttig feststellte. Seine Romane trieben fast immer auf ein düsteres Ende zu. Sie ermöglichten dabei aber den Blick in vergangene Welten, mit den Augen der handelnden Figuren schaue man auf diese Zeit, hier das Biedermeier. Jede Person sei lebensecht, mit individuellen Stärken und Schwächen. Hermann, lobte Inge Hüttig, habe einen reichen Wortschatz, die Sprache setze er liebevoll ein, fast ein bisschen altmodisch, und er sei ein genauer Beobachter. Oft schildere er heitere Situationen, aber dann bleibe dem Leser wieder das Lachen im Hals stecken. »Jettchen Gebert« werfe ein Schlaglicht auf soziale Verhältnisse – immerhin sei Hermann mit Heinrich Zille befreundet gewesen.

Die Handlung spielt von April bis November 1839, und in der Zusammenstellung der Familie entdeckt man Parallelen zur Familie Hermann. Seit 1812 war in Preußen die jüdische Bevölkerung der christlichen weitgehend gleichgestellt, und durch dieses Edikt konnten die jüdischen Familien am enormen wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben. Diese Chance hat Familie Gebert genutzt, ihr Judentum ist äußerlich nicht zu spüren. Die Wurzeln wurden allerdings bewahrt. Als Beispiel für die genaue Beobachtungsgabe lasen Inge Hüttig und Heinrich Sprink zunächst aus einer Szene, in der eine Abendgesellschaft im jüdischen Haushalt Gebert beschrieben wird.

Der Sommeraufenthalt in Charlottenburg findet sich ebenfalls wieder. »Ich erzähle diese Geschichte – oder niemand wird es tun«, hat Georg Hermann zur Auswahl des Themas gesagt, zu dem er durch einen Friedhofsbesuch angeregt wurde. Er wolle den letzten Hall eines Menschen auffangen – hier einer jungen Frau, die 1812 bis 1840 lebte. Jettchen, zu Beginn des Romans 27 Jahre alt, ist schön, kultiviert und nicht verheiratet. Sie lebt bei ihren Pflegeeltern Salomon und Riekchen. Dass sie sich in Dr. Kößling verliebt, gefällt der Familie nicht, stattdessen soll sie Riekchens Neffen Julius heiraten. Sie willigt ein, aber er ist ihr zuwider, und so geht sie einen mutigen Schritt. Sowohl Jette als auch Georg Hermann in die Gegenwart zurückzuholen, das war das Ziel des Abends, und nach dem reichen Beifall der Zuhörer zu schließen, ist das gelungen. ek