Kinderträume sind herausfordernde Bewegungsräume

Informativer, lehrreicher und gut besuchter Vortrag von Dr. Dieter Breithecker im Einbecker BBS-Forum

»Um ein kreatives Leben zu leben, muss man die Angst verlieren, etwas falsch zu machen«, die Aussage von Joseph Chilton Pierce wurde von Dr. Dieter Breithecker, Leiter der Bundesarbeitsgemeinschaft für Hal­-tungs- und Bewegungs­förderung (BAG), beim Vortrag im Einbecker BBS-Forum zitiert.

Einbeck. Da es auf die ersten Jahre ankomme, um komplexe neuronale Verbindungen zu erzeugen, sollten Kinder sich vielfältig, herausforernd, geistreich und selbst organisiert bewegen. Ob körperliche Betätigungen wirklich schlaumachen, das hinterfragte er. Bewegung habe zwar keinen linearen Zusammenhang mit Bildung, so Breithecker, doch helfen qualitative körperliche Betätigungen, Körper, Geist und Seele zu entwickeln.

Kathrin Düvel, Abteilungsleiterin in den Bereichen Sozialpädagogik, Pflege und Hauswirtschaft der Berufsbildenden Schulen (BBS) Einbeck, freute es, dass erneut mit den Kooperationspartnern eine hochkarätige Veranstaltung durchgeführt werde. Das Thema passe zu vielen Bereichen der BBS, sie hoffte auf viele Impulse, Aspekte, Bewegungsangebote und wissenschaftliche Erkenntnisse für sich, Kollegen und Schüler.Um die Familienfreundlichkeit von Einbeck zu steigern, brauche man gute Kooperationen, erklärte Martina Hainski vom Einbecker Bündnis für Familie, wie mit der BBS, dem Stadtelternrat der Einbecker Kindertagesstätten (Sterek) und dem Einbecker Kinder- und Familienservicebüro (EinKiFaBü). Die Zusammenarbeit habe sich bewährt, so dass man sie gern wie mit solchen interessanten Vorträgen fortführe.

Am ersten Tag ihres Kindes im Kindergarten habe sie die Aussage gehört: »Sollte ihr Kind nach einem Kindergartentag nicht schmutzig und dreckig sein, bringen sie es gleich wieder«, erklärte Alice Werner vom Sterek. Dies impliziere, dass heranwachsende Jungen und Mädchen in der Einrichtung toben, im Matsch spielen, auf Bäume klettern, mit den Stühlen kippeln oder sich selbst organisiert verwirklichen können und immer wieder etwas Neues wagen. Sie erhoffte sich für sich, Eltern und die Vertrauensperson der Kinder viele Anregungen und Tipps zur bildenden Wirkung von Bewegung.

Im Prozess des Heranwachsens verändern sich Kinder und Jugendlichen vom Körperaufbau sowie von ihren Fähigkeiten, erläuterte Breithecker. In der kritischen, sensiblen Phase seien »schaffbare« Anreize, Rückkopplungen und Motivationshilfen notwendig, um psychisch und physisch in Bewegung zu bleiben und um den Reifeprozess zu fördern. Ängste und die Gedanken an falsche Entscheidungen müssen abgelegt werden, wenn man ein kreatives und erfüllendes Leben führen will.Ein lebendiges Wesen betreibe immer eine Interaktion mit der Umwelt, so dass es zu Wahrnehmungsstörungen, Konflikten und Fehlentscheidungen komme, doch sollte jeder ständig aus seinem Verhalten lernen, um für kommende Herausforderungen gewachsen zu sein, so Breithecker.

Während heute Kinder in ihrer Sozialisation oft verplant, durchorganisiert und behütet seien, war dies früher anders. Spontan, selbst organisiert und risikofreudig hätten sie beim Tollen, Toben oder Springen mannigfaltige Erfahrungen und Kompetenzen gesammelt und durch ihre Bewegungen ein höheres Anspruchsniveau gehabt, das ihren Reifeprozess vielfältig gefördert habe.

Körper und Gehirn könnten nicht wachsen, wenn sie nicht vor Aufgaben gestellt würden, an denen sie sich weiterentwickeln. Vorgegebene, normierte, eingeschränkte und zu sichere Angebote, die kein Wagnis und keine Herausforderung bieten, schränken den Entwicklungsprozess ein, während natürliche, intuitive, normfreie und mit Risiken verbundene Offerten immer wieder neue Impulse setzen, Selbstwertgefühl und Lösungsmechanismen stärken, für sensitive Sensationen sorgen sowie die situative Intelligenz bei Problemen reifen lassen. Kinderträume seien herausfordernde Bewegungsräume, in denen sie sich selbstbestimmt und ohne vorgegebenen Richtlinien ausleben können.Aus der Sicht der Evolution sei die Überlebenswahrscheinlichkeit eines biologischen Systems umso größer, je besser es sich an unterschiedliche Lebensbedingungen anpasse. Einem menschlichen Wesen könne man nicht alles lehren, aber helfen, eigenständig Probleme und Situationen immer besser zu meistern.

Gemäß der Aussage der Evolutionstheorie »Survival of the Fittest«, also das Überleben der am besten angepassten Individuen, und dem Ansatz, dass es ständig eine Wechselwirkung zwischen Körper, Geist und Seele gebe, haben sich die Menschen seit ihrem Bestehen ständig und täglich weiterentwickelt, um steigende Herausforderungen der reizreichen Umwelt gewachsen zu sein.

Rund 400.000 Informationen werden permanent an das Gehirn geschickt, das filtert, welche für die jeweilige Situation – wie beim aufrechten Gang – benötigt werden. Nehmen hingegen die Propyorezeptoren eine veränderte Körperlage auf, also eine Stellungsänderung der Körperteile zueinander, werden das Haltungsbewusstsein und die Informationen von den Sensoren in Muskeln, Sehnen und Gelenken geändert.Werden mehr Reize gesendet, erhält das Gehirn auch mehr Informationen, es wird wacher und kann sich immer wieder auf neue Herausforderungen einstellen. Spiele, Abenteuer, Risiken und Erfahrungen sind daher elementare Faktoren, die helfen, dass sich kontinuierlich das abstrakte Denken entwickelt. Das heranwachsende Kind formt sich zu einer selbst bildenden komplexen Einheit.

Bei der Geburt sind die mehr als 160 Milliarden Gehirnzellen noch isoliert. Erst durch Erfahrungen, Entdeckungen und Erlebnisse entstehen Verbindungen, die sich durch Wiederholung der Vorgänge stärken. Je komplexer und verzweigter das Netzwerk wird, bei Kindern vor allem durch Bewegung beeinflusst, desto reichhaltiger und vielseitiger entwickelt sich ebenfalls das Spektrum an Reaktionen, die zur Lösung von Problemen zur Verfügung stehen.

Die Reifungsprozesse brauchen immer »Nahrung«, also immer Erfahrungen in Form von problemlösenden Alltagsgeschehnissen, um Kompetenzen für Handlungen und zukünftige Lösungsansätze zu erhalten. Da auch das Gehirn nicht zum stupiden Befolgen von Instruktionen und Anweisungen gedacht ist, sondern zum Lösen von Herausforderungen, müssen vor allem Kinder Erfahrungen und Kompetenzen selber sammeln. Dabei sollten Erwachsene aus Angst, dass etwas passieren könnte, sie nicht »bemuttern« oder »überhüten«, denn dies minimiere die Entwicklungschancen. Kinder wissen meist oft selber am besten, welches Wagnis oder Risiko sie eingehen können, so Breithecker.

2010 hat Professor Dr. Klaus Völker festgestellt, dass die Gesundheit maßgeblich auch vom Ausmaß der Alltagsaktivität beeinflusst ist. Da auch die Bewegung ein wichtiger Teil des Seins und der Entwicklung sei, solle ihrem Drang immer nachgegangen werden, nicht nur beim Sport oder in den Pausen, sondern vor allem dann, wenn Bedarf besteht. Ein festes Programm nach Schule oder Arbeit von einer getimten Aktivität zur anderen hindere die umfangreiche Ressourcenabschöpfung im Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele. Im Gegensatz dazu fördere von Neugier gesteuertes Erkundungs- und Entdeckungsverhalten die Ansätze, aber auch Selbstsicherungsfähigkeit, Risiko- und Wagniskompetenz, Empathie, die Differenzierung der Herausforderungen sowie die Möglichkeiten, komplexe motorische oder psychische Herausforderungen zu bestehen.

In der europäischen Norm 1176-1 zu Außenspielflächen und Spielgeräten heißt es, dass unter Berücksichtigung der Eigenarten des kindlichen Spielens und der Art, wie Kinder vom Spielen auf dem Spielplatz hinsichtlich ihrer Entwicklung profitieren sowie das Niveau ihrer Leistungsfähigkeit sozial, geistig oder körperlich erweitern, sie lernen müssen, mit Risiken fertig zu werden, die auch zu Unfällen oder Verletzungen führen können. Zwar werde die Risikokompetenz nur durch eigene Wagniserfahrungen ausgebildet, so Breithecker, doch verfügen Jungen und Mädchen über eine angemessene Selbsteinschätzung und die innewohnenden Drei-Punkt-Sicherung, die sie anwenden. Drei Extremitäten haben sichernden Halt, eine sucht in Problemsituationen nach Lösungsmöglichkeiten. Innerhalb kürzester Zeit können durch Belastungswechsel von Händen und Füßen selbst schwierige Herausforderungen wie auf Bäumen gemeistert werden. Kinder schaffen sich oft spannungsreiche Situationen, um eigene Fortschritte selber wahrzunehmen, doch erweitern sie diese Handlungsspielräume stets bis zu einer – noch kontrollierbaren – Grenze.

Breithecker appellierte an die Zuhörer, dafür zu sorgen, dass sich – nicht nur für Kinder – Bewegung lohne, dass sich motorisch betätigt werde, dass Situationen geschaffen werden, in denen eigene Lösungsmöglichkeiten und Stärken Einzug halten, dass es Ansätze zur Entdeckung und Entfaltung mit allen Sinnen gebe und dass in Angeboten gewonnene Einsichten, Erfahrungen, Kenntnisse und Fähigkeiten immer praktisch und nützlich für die jeweilige Weiterentwicklung sein sollten.

Alice Werner und den Zuhörern imponierten der informative Vortrag und die zahlreichen auflockernden und lehrreichen Beispielübungen. Als Dank für die bewegenden Aussagen überreichte sie Breithecker ein Präsent.mru