Literarisch für Herbst und Winter gut gerüstet

Annemarie Stoltenberg stellt im »Haus der Bücher« lesenswerte Neuerscheinungen vor / Romane, Sachbücher, Krimis dabei

Wenn sie Bücher vorstellt, möchte man am liebsten ein Häkchen nach dem anderem auf dem Zettel machen: »Muss ich lesen.« Aus der riesigen Fülle von  Neuerscheinungen in diesem Herbst hat Literaturkritikerin Annemarie Stoltenberg auf Einladung des »Hauses der Bücher« wieder besondere Lektüre herausgesucht und auf gewohnt unterhaltsame Art präsentiert.

Einbeck. Eines, räumte sie gleich zu Beginn ein, habe sie auf der Bücherliste vergessen: einen Liebesroman. Und aus dem Stand konnte sie »Nathalie küsst« von David Foenkinos und Christian Kolb empfehlen - demnächst verfilmt mit »Amélie«-Darstellerin Audrey Tautou.

Etwas wie »Schwarzbrot« sei für sie »Die Nacht der Erinnerungen« von Antonio Munzo Molina, sagte sie. Lange habe sie sich das dicke Werk aufgespart, um es dann doch schnell durchzulesen. Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen, unter anderem im Madrid der 30er Jahre, aus dem ein Architekt nach Amerika flieht. Parallel dazu entspinnt sich eine Liebesgeschichte zwischen ihm und einer Amerikanerin. Viele Nebenfiguren werden detailreich beschrieben, ein großes Stück Literatur, so Stoltenberg.

Der erste auf deutsch erschienene Roman von Gerard Woodward, »Ausgehungert«, geht ins London der 40er Jahre. Die junge Tory muss hier ihr Leben irgendwie allein meistern, denn ihr Mann ist im Krieg. Als er, völlig verändert, nach Hause kommt, weiß sie keinen anderen Rat, als ihn »auszuhungern«. »Wir sollten uns dafür interessieren, was sich andere Völker über diesen Krieg erzählen«, empfahl Annemarie Stoltenberg.

»Der Hals der Giraffe« ist nicht nur ein interessantes, sondern auch ein schön ausgestattetes Buch von Judith Schalansky. Eine Gymnasiallehrerin, eigentlich eine unsympathische Figur, tritt in einen inneren Monolog mit sich selbst, und trotz aller Vorbehalte ist der Leser bald auf ihrer Seite. Der Witz-Teppich der Geschichte wird zum Ende allerdings mit einem Ruck weggezogen.

»Diesmal war ich einverstanden mit der Wahl«, lautete Stoltenbergs Urteil zum diesjährigen Buchpreisträger Eugen Ruge und »In Zeiten des abnehmenden Lichts«. Der Verfasser beschreibt die Epoche von 1950 bis 2001, er springt mit großer sprachlicher Kraft zwischen Zeitebenen hin und her, wobei das erzählerische Zentrum ein 90. Geburtstag im Jahr 1989 ist.

»Dieser Autor hat was ganz Reelles, Unspektakuläres«, stellte sie »Weiskerns Nachlass« von Christoph Hein vor. Auch hier ist der Held kein Sympathieträger, eher langweilig und garstig. Mit einer halben Stelle an einer Hochschule steckt er in Finanznot, die durch einen reichen, aber dummen Studenten beendet werden könnte. Korruption wird hier auf unterschiedliche Weise zum Thema. Rücksichtslos über das weibliche Altern schreibt Wilhelm Genazino in »Wenn wir Tiere wären« in realistischer Weise. Seine Helden werfen Sand ins Getriebe.

Liebevolle Trauerbewältigung wird deutlich in »Und wieder Februar« von Lisa Moore. Man fühle sich, versicherte Annemarie Stoltenberg, bei diesem Roman über eine Familie, die um ihren toten Vater trauert, melancholisch, aber auch getröstet, werde zu einem Familienmitglied während des Lesens. Booker-Preisträgerin Anne Enright hat mit »Anatomie einer Affäre« eine »Amour fou« seziert. Beide Partner sind verheiratet, zunächst brennt ihre Liebe im Verborgenen. Aber daran zerbricht sie schließlich auch – ein Vorgang, den die Autorin in unsentimentaler Sprache schildert. Ein Sachbuch, versteckt in einem Roman, ist »Der gute Psychologe« von Noam Shpancer. Im Mittelpunkt steht eine Patientin mit einer Angststörung. Der Held vermittelt, was ein guter Psychologe tun muss, wie eine Therapie aussieht – und dass sich Erinnerungen verändern im Leben. Stoltenbergs Journalisten-Kollege Jürgen Bertram hat mit »Torschrei« seine eigene Kindheit aufgearbeitet, sich das Herz aufgerissen, wie die Kritikerin es empfand. Die ersten Jahre verbrachte Bertram, Jahrgang 1940, in Bad Grund. Ein brutaler Vater, aus dem Krieg zurück gekehrt, eine depressive Mutter, die sich schließlich das Leben nimmt: Fußball ist da das einzige, was dem Jungen Freude macht, doch auch das will der Vater dem Sohn nicht gönnen. In einem Rutsch, so Stoltenberg, habe sie »Der Aufstand der Kinder« durchgelesen, ein Jugendbuch wie »Emil und die Detektive«, nur in die Zukunft versetzt. Im Mittelpunkt steht eine Kinderbande, die trickreich über die Runden kommt und die in einer Gesellschaft, die ihre soziale Verantwortung abgegeben hat, einen mutigen Schritt geht. »Das Buch vermittelt Zuversicht«, so ihr Urteil.

Viele Motive aus früheren Büchern hat Umberto Eco in »Der Friedhof in Prag« aufgegriffen. Schauplatz ist Paris im Jahr 1897, und mit Simone Simonini hat er eine der finstersten Figuren der Literaturgeschichte geschrieben. Er ist vollkommen ohne Moral. Dabei ist dies die einzige erfundene Person des Romans, alle anderen haben historische Vorlagen. »Das ist kein einfacher Historienschmökern, sondern schon anstrengend, fordert den ganzen Leser«, warnte die Kritikerin. Es geht um Verschwörungstheorien, angefangen beim gefälschten Protokoll der »Weisen von Zion«. Dicht, intensiv und gründlich gearbeitet sei Ecos Werk, erläuterte sie – und es löse beim Leser vielleicht auch Gedanken über eigene Verschwörungstheorien aus, schmunzelte sie.

Von »Opernball«-Autor Josef Haslinger hatte sie »Jachymov« auf der Empfehlungsliste. Dort befanden sich Uranminen und ein Arbeitslager, in das in den 40er Jahren fast die ganze tschechische Eishockey-Mannschaft geschickt wird. Die Tochter eines Spielers erzählt nun die Geschichte, die Haslinger als politischen, historischen und Sportroman geschrieben hat – der Schriftsteller als historischer Aufklärer.

Zum Lesewinter gehören auch Krimis, und so hat Annemarie Stoltenberg mit »Der Riss« von Claudia Pineiro einmal einen argentinischen Stoff ausgewählt. Der Riss geht durch Nelson Jaras Haus, und er beschwert sich bei den verantwortlichen Architekten. Dann verschwindet er eines Tages, und als jemand 20 Jahre später nach ihm fragt, nimmt das Drama seinen Lauf. »Sehr guter Stoff«, urteilte Stoltenberg.

»Wer Fräulein Smilla mochte, wird auch hieran Gefallen finden«, sagte sie zu »Im Eis« von Melanie McGrath. Die Handlung spielt in der Nähe des Nordpols, wo eine Inuitfrau bei einer Touristentour einen Gast verliert. Er wird erschossen. Das will sie nicht auf sich beruhen lassen, und so kommt sie einer Wirtschaftsspionage und einer geplanten Rohstoffausbeutung auf die Spur. Die Autorin nimmt mit in eine fremde Landschaft und Kultur, »und man lernt viel über Eis.«In eine Linie mit Larsson und Adler Olsen setzte Stoltenberg den Isländer Arnaldur Indridason. »Abgründe« heißt sein neues Buch, das wie eine »Wer war der Mörder?«-Geschichte beginnt und schließlich auf der Bühne der Finanzkrise fortgesetzt wird. Häppchenweise erfährt der Leser zudem Privates aus dem Leben der Ermittler. Mit »Eine Frau bei 1000 ˚« von Hallgrimur Helgason verwies sie auf einen weiteren lesenswerten Isländer. »Ein schräges Buch«, so ihr Urteil. Die Hauptrolle spielt eine ältere Dame, die mit ihrem Laptop Kontakt zur Welt hält und viel zu erzählen hat, etwa über ihre geplante Kremierung – bei 1.000 Grad. »Ein richtiges Schmuckstück von Krimi« schwärmte die Kritikerin über »Der Fall Collini« von Ferdinand von Schirach, das sei solides Handwerk. Im Berliner »Adlon« wird ein alter Mann von einem fast ebenso alten Italiener ermordet, der gesteht, aber ansonsten nicht aussagen möchte. Schließlich wird deutlich, dass es sich um späte Rache handelt. »In die Geschichte verpackt ist ein deutscher Justizskandal, der sich gewaschen hat«, verriet Stoltenberg – eine Amnestie für Naziverbrecher sei 1969 einfach so abgenickt worden.

»Fitte Blesshühner und Biber mit Migrationshindergrund« begegnen dem Leser in den »Naturgeschichten« von Josef H. Reichholf. Er beschreibt Phänomene, die Landschaften entwickeln und verändern. Man erfahre viel Interessantes, und das Buch sei auch gut geeignet zum Vorlesen.

»Das verbreitet Freude und Lebensglück«, freute sich Stoltenberg über »Madame Mallory« von Richard C. Morias. Eine indische Familie vagabundiert durch Europa, bis sie schließlich in Frankreich sesshaft wird und ein Restaurant eröffnet, nicht eben zur Freude der Nachbarin Madame Mallory, die einen eigenen Gourmet-Tempel führt. Zunächst sabotiert sie die Arbeit der Konkurrenz, dann stellt sie einen Sohn ein, und gemeinsam wird gekocht, dass sich der Leser die Finger lecken mag.

Annemarie Stoltenbergs Tipps wurden von viel Beifall begleitet, bieten sie doch einmal mehr reiche Auswahl für herbstliche Schmöker-Abende auf der Couch.ek