Nachhaltigkeit des Lernens ermöglichen

Zur derzeitigen Debatte über das Abitur nach acht Jahren Gymnasialzeit

Die Elternräte namhafter Gymnasien aus dem Raum Südniedersachsen haben sich im Mai 2011 verbündet, um erstens gelebte Demokratie zu praktizieren und zweitens den Bildungsauftrag der Gymnasien in Anbetracht der Gymnasial­zeitverkürzung von neun auf acht Jahre zu hinterfragen. Die elterliche Kritik an diesem »Turboabitur« macht an den Landesgrenzen nicht halt. Seit geraumer Zeit werden aber auch vermehrt Stimmen aus Wirtschaft und Politik laut, die diese bildungspolitische Entwicklung ebenso kritisch hinterfragen. Einige von diesen Stimmen wurden in den letzten zwei Monaten hier in der Einbecker Morgenpost publiziert.

Einbeck. Das folgende Plädoyer ist ein respektvoller Beitrag zur Fortsetzung eines konstruktiven Dialogs zwischen Elternräten, Politik, Wirtschaft und selbstverständlich der Landesregierung; mit der Intention, den Bildungsauftrag der Gymnasien im Zeitalter der Globalisierung auf stärkere und somit nachhaltiger wirkende Schultern der Kinder und deren Familien zu stellen. Hierbei geht es nicht um politische oder wirtschaftliche Machbarkeit, sondern um ethische und bildungspolitische Aspekte. Ethik und Bildungspolitik müssen verknüpft werden. »Dafür setzen wir uns ein. Wir möchten unseren Kindern wieder ein Leben an niedersächsischen Gymnasien ermöglichen, in denen sie wieder mehr Zeit für Bildung und ihr Leben haben« formuliert  das Bündnis der Elternräte Südniedersächsischer Gymnasien.

Durch die Einführung des Abiturs nach acht Jahren Gymnasialzeit im Jahr 2004 wurde auch an den niedersächsischen Gymnasien das alte System der gymnasialen Ausbildung maßgeblich verändert. Kultur und Politik schaffen Veränderung und müssen sie schaffen. Viele der  Gründe sind bekannt; besonders auf internationaler und betriebswirtschaftlicher Ebene. Trotzdem sind hier Vergleiche von nicht vergleichbaren Kulturen und Bildungssystemen gemacht worden; das gilt für die USA, die Schweiz, für die skandinavischen Länder ebenso wie für die Europas. Nicht nur das traditionelle Gymnasium, das nach neun Jahren zur allgemeinen Hochschulreife führte, ist wie die deutsche Philosophie komplex und anspruchsvoll, sondern auch international geschätzt. Bill Clinton sagte im Jahr 1998 über das G9 noch bevor das G8 eingeführt wurde: »Why change a good system?« (Warum ein gutes System verändern?)

»Zeit ist in unserer global vernetzten Wissensgesellschaft ein teures Gut, aber unsere Kinder sind das höchste Gut, wofür wir als kulturelle Gemeinschaft Sorge tragen und Sorge tragen müssen.  Geht es ihnen gut, dann geht es auch uns, den Eltern gut«, meint das Bündnis. Nachhaltiges Lernen braucht aber Zeit und Muße, um reife Früchte zu tragen. Das Turboabitur, so warnen die  Schulelternräte der Gymnasien Südniedersachsens seit 2009,  produziert aber eine Schülerschaft, die durch die zeitliche Verkürzung einem enormen Lern- und Leistungsdruck ausgesetzt ist, der sich vielfältig negativ äußert. Erhöhter Medienkonsum sowie Schlafstörungen,  Kopfschmerzen, Essstörungen und Depressionen sind keine Seltenheit. Der Austritt aus Vereinen und anderen ehrenamtlichen Engagements hat stark zugenommen. Viele der Abiturienten der letzten zwei Jahrgänge verbringen vermehrt längere Zeit im Ausland, um sich zu regenerieren  oder brechen nach wenigen Wochen ihr Studium ab. Aus diesem Grund richtet der Schulleiter von Salem in Baden-Württemberg, so informiert die Wochenschrift »Die Zeit« im Juli 2013, ein Orientierungskolleg für die G8-Abiturienten ein, weil diese, so der Schulleiter, zu jung und zu orientierungslos seien, um den Anforderungen der Studiengänge der Universitäten gewachsen zu sein. Der Schulleiter der Goetheschule in Einbeck, Hartmut Bertram, hat deshalb in seiner Rede anlässlich der Entlassung der Abiturienten im Juli 2012 zu bedenken gegeben, dass die G8-Abiturienten  »stromlinienförmig« geworden seien.  Hier scheine etwas auf der Strecke geblieben zu sein, denn gerade an Ecken und Kanten könne sich im positiven Sinne gerieben werden, um durch diese Reibung etwas Neues auf kreative Art und Weise entstehen zu lassen.

Im Juli 2012 hat der erste reine G8-Jahrgang Abitur gemacht; mit vergleichbaren Noten wie die Jahrgänge im alten System. Bei dieser Auskunft wird allerdings die Abgangsrate von 40 Prozent ab Klasse 7, so Frau Heiligenstadt gegenüber dem NDR,  ausgeblendet, ebenso die Zahlen derjenigen, die insbesondere in der derzeitigen Oberstufe freiwillig in Jahr zurückgehen oder erst gar nicht zum Abitur zugelassen werden. Wenn aber bereits fast die Hälfte der Gymnasiasten bereits vor dem Abitur das Gymnasium verlässt, ist  eine Vergleichbarkeit der Noten zwar möglich, aber ihr Aussagewert bestenfalls eingeschränkt.  In anderen Kulturen ist eine Abgangsrate von bereits 15 Prozent des administrativen Eingreifens würdig, beispielsweise in den USA.  Die derzeitige »Arbeitsbelastung« der Schülerschaft ist hoch; insbesondere weil  in der Oberstufe  wöchentliche akademische Arbeitsstunden von bis zu 50 oder mehr akkumuliert werden. Hierzu zählen sowohl der Unterricht von 32, 34 oder gar 36 Wochenstunden, Hausaufgaben sowie das Vokabellernen und last but not least die Vorbereitung auf Klassenarbeiten, Klausuren oder das Anfertigen der Facharbeit im derzeitigen Jahrgang 11. Hinzu kommt bei zunehmend mehr Schülern der schulische oder außerschulische Nachhilfeunterricht. Diese Anzahl der akademischen Arbeitsstunden in der derzeitigen Oberstufe ab Klasse 10 ist vergleichbar mit der Arbeitsbelastung von Führungskräften in Wirtschaft, Bildung und Politik. Ganztagsschulen, in denen Schulkinder pro Tag acht oder mehr Stunden verbringen, gibt es auf der ganzen Welt; der qualitative Anspruch der deutschen Gymnasien, der auf jeden Fall bleiben muss und bleiben wird, ist jedoch einzigartig. Genau hier liegt aber das Problem, weshalb wieder mehr Zeit in die Oberstufen der niedersächsischen Gymnasien einziehen muss.Sowohl die bekannte Wochenschrift »Die Zeit« als auch »Der Spiegel« haben 2008, 2011 und 2013 zum Teil Leitartikel zur diesbezüglichen Thematik veröffentlicht. Das sind Indizien dafür, dass die Kritik am G8 auch national diskutiert wird und somit keine marginale Erscheinung ist. Im Juli 2013 wurde aus Bündnis südniedersächsischer Gymnasien stammend, das seit 2011 existiert, ein Forderungskatalog an die amtierende Kultusministerin  Frauke Heiligenstadt gesandt, der mit der Bildung einer 20-köpfigen Expertenrunde in Hannover beantwortet wurde. Auch führende Vertreter der Wirtschaft fordern nun die Rücknahme des Turboabiturs, weil die G8-Abiturienten zu jung und zu unerfahren seien  und über zu wenig soziale Kompetenz verfügten. »Wollen wir das Abitur weiterhin als Reifeprüfung ansehen, aus der ‘reife’ junge Menschen hervorgehen, dann greift diese Schulzeitverkürzung zu kurz«, meint das Bündnis. Persönlichkeitsentwicklung ist ein psychosozialer Prozess, der Reifezeit benötigt. Dem kann, aber sollte man nicht ausschließlich mit Argumenten der Betriebswirtschaft beikommen. Insofern macht Kants kategorischer Imperativ wieder Sinn: »Handle so, dass die Maxime deines Handeln jederzeit  zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Warum dürfen die Gymnasien ergo nicht mehr Zeit auf die Bildung ihrer Schülerschaft verwenden als die berufsbildenden Schulen und die Gesamtschulen mit gymnasialer Oberstufe? Gerade der Schulform, die die höchsten Ansprüche an ihre Schüler stellt und stellen muss, wird diese Gleichstellung verwehrt. Addiert man die extreme zeitliche Belastung der gymnasialen Schülerschaft Niedersachsens mit der Klage der Universitäten – allen voran in den Natur-, Ingenieurswissenschaften und in der Mathematik – bezüglich der unzureichenden schulischen Vorbereitung auf das Studium an deutschen Universitäten, »dann müss die generelle Rückkehr zum gymnasialen Abitur nach neun Jahren gefordert werdenn.

»Da wir als Wissens- und Informationsgesellschaft immer mehr exzellente  Schüler auszubilden haben, um international wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen wir als Gesellschaft auch die dafür notwenige Zeit, die ein Abitur im klassischen Sinn erfordert, bereitstellen.« Sowohl die Potenzierung des Wissens, die seit dem 20. Jahrhundert alle Wissensgebiete kennzeichnet als auch die sich daraus ergebende Frage der Wissensselektion und  Wissensvermittlung, fordern auf gar keinen Fall eine Verkürzung der Gymnasialzeit, wie sie von der Landesregierung im Jahr 2004 eingeführt wurde. Auch das derzeitige vierte Semester, das aufgrund seiner Kürze nur noch rudimentäre Wissensvermittlung zulässt, aber trotzdem als volles Semester in die Abiturwertung eingeht, sind G8-Modalitäten, die dringend einer Veränderung würdig sind. Sicherlich ist ein Abitur nach acht Jahren möglich, aber sowohl bei den Schülern,  Eltern und Lehrern nur zu einem zu hohen Preis. Nicht umsonst hat sich der Philologenverband im Frühjahr 2013 gegen die Fortsetzung des G8 ausgesprochen. Der Verband der Elternräte Niedersächsischer Gymnasien hat sich kürzlich angeschlossen. Eine Resolution der Direktorenvereinigung Niedersächsischer Gymnasien stimmt einer dualen Gangart in Punkto G8 und G9 an den Gymnasien zu. Kein G8 ohne G9 und umgekehrt. 

Angesichts einer Schullandschaft von weiterführenden Schulen in Niedersachsen, die im Fall der Berufsbildenden Schulen und seit geraumer Zeit  auch der Gesamtschulen mit Oberstufenangebot, die jeweilige Schülerschaft nach insgesamt 13 Schuljahren zum Abitur führen, ist es lediglich betriebswirtschaftlich haltbar, die besagte Verkürzung der klassischen Gymnasialzeit beizubehalten. »Unter Chancengleichheit verstehen wir, dass den Gymnasien wieder genauso viel Zeit zur Verfügung gestellt wird wie den  Gesamtschulen mit Oberstufenangebot und den Berufsbildenden Schulen. Im Zeitalter der Globalisierung wagen wir am Ende unseres Plädoyers die Frage: Was ist wichtiger? Betriebswirtschaft oder der Mensch? Ökonomie oder Ethik?« Kein geringerer Naturwissenschaftler als Albert Einstein, der auch die menschliche Kreativität und  das politische Engagement für unabdingbar hielt, formulierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts: »Der Staat ist für den Menschen da; nicht der Mensch für den Staat.« » Wir, die Elternräte von namhaften Gymnasien Südniedersachsens, erwarten eine Gleichbehandlung unserer Kinder auf den niedersächsischen Gymnasien im Vergleich zu den anderen zum Abitur führenden Schulformen. In diesem Sinn beenden wir unser   Plädoyer und erwarten eine den Menschen und die Gymnasiasten und Gymnasien stärkende Entscheidung aus Hannover«, erklären die Elternräte des Bündnisses Südniedersächsischer Gymnasien.oh