Neuerscheinung beleuchtet Einbecker Idylle und Abgründe

Dr. Christine Wittrock veröffentlicht Buch über Geschichte von 1900 bis 1950 / Vorstellung am 15. Dezember / Hier: Die Anfänge der NSDAP

Am Ende des Jahres 1923, am berühmt-berüchtigten 9. November, putschte Adolf Hitler mit seinen Getreuen in München. Es klappte nicht. Aber es dauerte keine zehn Jahre mehr, bis er an der Macht war. Überall im Land entstehen nationalsozialistische Gruppierungen. In Südnieder-sachsen organisiert der Mediziner Dr. Ludolf Haase die NSDAP von Göttingen aus. Eine erste Gruppe entsteht in den frühen 20er Jahren im Bereich Edesheim-Stöckheim-Hohnstedt. Anfang 1930 gründet der 40-jährige Fabrikant Siegfried Sachsenröder zusammen mit zwölf Gleichgesinnten eine neue NSDAP-Ortsgruppe Einbeck und avanciert zum Kreis- und Ortsgruppenleiter.

Einbeck. Sachsenröder, Einbecks erster Ortsgruppenleiter, kam aus Barmen, er hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg hier niedergelassen. Er bewohnte mit seiner Familie das Landhaus Borntal, eine Villa, die er im Norden der Stadt hatte errichten lassen. Sein Agieren ist Beispiel für die monströsen Auseinandersetzungen, Rivalitäten und Richtungsstreitigkeiten, die in der Partei toben. Sachsenröder, mit einem ausgeprägten Sinn für große Auftritte ausgestattet, hatte noch im Februar 1931 die Hochzeit mit seiner zweiten Frau, ebenfalls NSDAP-Mitglied, im Dom zu Gandersheim gefeiert. In SA-Uniform schritt er zum Traualtar, voran getragen wurden die SA-Sturmfahnen, und Nazi-Pastor Beye vollzog unter Wagner-Klängen die Trauung. Aus der ganzen Umgebung waren die SA-Stürme erschienen, um für das Paar Spalier zu bilden.

Aber schon wenige Wochen später wird Sachsenröder von seinen Parteigenossen beschuldigt, Parteigelder veruntreut zu haben. Dagegen wehrt er sich erfolgreich mit einer Verleumdungsklage vor dem Einbecker Amtsgericht. Vor dem NS-Parteigericht hat er allerdings schlechte Karten: Seinen Gegnern gelingt es im November 1931, ihn aus der NSDAP ausschließen zu lassen. Sie nehmen ihn sogar, nachdem sie an der Macht sind, in Schutzhaft und weisen ihn später für mehrere Monate in ein KZ ein, wegen »fortgesetzter Zersetzungstätigkeit«.

Innerparteilich scheint der erste Ortsgruppenleiter und Kreisleiter eine Menge Feinde gehabt zu haben: Da ist zunächst einmal sein Rivale Harry Pieper, der nach Sachsenröders Rausschmiss 1931 das Amt des Ortsgruppenleiters und Kreisleiters von Einbeck übernimmt. Auch den Wenzener Pastor Beye hat Sachsenröder sich zum Feind gemacht. Besonders aber setzt ihm der Göttinger Jurist Dr. Hermann Muhs zu. Er gehörte zur aufsteigenden Nazi-Elite und hatte wohl den längsten Arm in der regionalen Partei-Hierarchie. Im März 1933 zum Regierungspräsidenten von Hildesheim aufgestiegen, sorgte er dafür, dass Sachsenröder mit seiner Familie 1934 Einbeck verlassen muss. Die Pracht und Herrlichkeit, mit der er als »König vom Borntal«, wie er genannt wurde, wenige Jahre residiert hatte, ist schnell dahin. Als das Nazireich 1933 beginnt, ist Sachsenröders Stern längst gesunken.

Sein Lebensweg bleibt jedoch weiter turbulent: Nach KZ-Haft und Vertreibung aus Einbeck setzt er alles daran, in der NSDAP rehabilitiert zu werden. Das gelingt ihm zunächst auch. Er interveniert bis in die höchsten Stellen der Partei, bis zum »Führer-Stellvertreter« Rudolf Hess, und erhält schließlich wieder ein Amt im aktiven Parteidienst: 1936 wird er Gauhauptstellenleiter in Dessau. Allerdings dauert es kaum zwei Jahre, bis er erneut Probleme bekommt: Er verbreitet das Gerücht, dass sein Vorgesetzter, Gauleiter Jordan, nicht arischer Abstammung sei, sondern Jude. Das bringt ihm erneut eine Verurteilung ein, diesmal zu neun Monaten Gefängnis wegen »Heimtücke«. Darüber hinaus wird er nun endgültig aus der NSDAP ausgeschlossen.

Aus seiner Inhaftierung versucht er nach 1945 Kapital zu schlagen: Er erfindet sich in der Nachkriegszeit neu – als Widerstandskämpfer. Schließlich hat er KZ- und Gefängnishaft vorzuweisen. Seine NS-Mitgliedschaft versucht er zunächst zu verheimlichen. Durch die Maschen des Entnazifizierungssystems scheint er hindurchzuschlüpfen. Erst 1949, als sich die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik soweit geändert haben, dass Nazis nicht mehr mit strengen Auflagen durch die Spruchkammern rechnen mussten, stellt er sich selbst den Behörden. Er möchte Wiedergutmachung für seine Haft als »Widerstandskämpfer« erlangen. Die Spruchkammer Freiburg im Breisgau durchschaut ihn allerdings und nimmt ihm seine Widerstandslegende nicht ab. Ende 1950 wird das Verfahren im Zuge eines schnellen Abschlusses der gesamten Entnazifizierung eingestellt. Ob Sachsenröder tatsächlich noch eine Entschädigung durchgesetzt hat, ist nicht bekannt. Jedenfalls überlebte er Freunde wie Feinde beträchtlich und starb im gesegneten Alter von 103 Jahren in einem sonnigen Ort am Bodensee.Als 1933 die Nazis die Macht in die Hände gelegt bekommen, werden demokratische Kräfte entmachtet. Während Sozialdemokraten und Kommunisten um ihr Leben fürchten, machen andere Karriere. Der Jurist Kurt Heinrichs, einst Göttinger Corps-Student einer schlagenden Verbindung und nach seiner Promotion im preußischen Verwaltungsdienst tätig, ist der Typus, den der neue Staat jetzt benötigt: kein nationalsozialistischer Aktivist und Radau-Antisemit, sondern ein fachlich versierter Beamter, der dem Unrechtsstaat eine gewisse Seriosität verleihen kann. Dr. Heinrichs war bereits Anfang Januar 1933 als kommissarischer Landrat eingesetzt worden, also noch vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, er hatte damit seinen Eid auf die Verfassung der Weimarer Republik geleistet. Das allerdings ist jetzt ohne Bedeutung; denn im Frühjahr 1933 schlägt die Stunde der Karrieristen und Konjunkturritter. Der Zulauf zur NSDAP ist so gewaltig, dass die Partei sich nur durch eine Aufnahmesperre vor dieser Flut zu retten vermag.

Gerade noch rechtzeitig zum 1. Mai 1933 springt Heinrichs auf den fahrenden Zug auf, wird NSDAP-Mitglied und legt damit den Grundstein zu seiner weiteren Beamtenkarriere: Im Juni 1933 ernennt Innenminister Hermann Göring den 38-jährigen zum Landrat des Kreises Einbeck. Man arrangiert sich nicht mit den Verhältnissen, man engagiert sich für den Nazi-Staat: Heinrichs Ehefrau Annemarie ist bei der NS-Frauenschaft aktiv, ganz dem Führer ergeben, wird sie später die Einbecker Ortsfrauenschaftsleiterin. Und als 1941 die Querelen innerhalb der provinziellen Partei- und Verwaltungshierarchie in Einbeck zu arg werden, fällt der Landrat die Karriereleiter hinauf und wird Ministerialrat im Reichsinnenministerium, daneben auch Blockleiter in seinem Berliner Wohnbezirk. Seine Chefs in der Reichshauptstadt: Wilhelm Frick und ab 1943 Heinrich Himmler.

Die aus Einbeck stammende Historikerin Dr. Christine Wittrock hat ein Buch über die Geschichte Einbecks zu Anfang des 20. Jahrhunderts verfasst: »Idylle und Abgründe. Die Geschichte der Stadt Einbeck mit dem Blick von unten 1900 - 1950«. Es erscheint in diesen Tagen. Am Sonnabend, 15. Dezember, wird sie es ab 18 Uhr in der Stadtbibliothek, Dr. Friedrich-Uhde-Straße, vorstellen.oh