Politik fängt direkt vor Ort an

Podiumsdiskussion: »In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben?« | Demokratie erhalten

Vor einem großen Publikum wurde im Alten Rathaus über die künftige Ausgestaltung der – demokra­tischen – Gesellschaft diskutiert.

Einbeck. »In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben?«, das war das Thema einer Podiumsdiskussion, zu der die CDU-Frauen-Union (FU) und die Junge Union (JU) in die Rathaushalle eingeladen hatten. Dass die Gesellschaft demokratisch sein sollte, stand für die Teilnehmer dabei außer Frage, aber auch noch weitere Details sollten angestrebt werden.

Unter der Moderation von Frank Fornacon, Pastor und Journalist, diskutierten der frühere Superintendent des Kirchenkreises Leine-Solling, Heinz Behrends, Einbecks Bürgermeisterin Dr. Sabine Michalek, Professor Dr. Ulrich Harteisen, Professor für Regionalmanagement an der HAWK Göttingen, der Einbecker Politikwissenschaftler Dr. Falk Ostermann und Michael Neugebauer, Geschäftsführer der Göttinger Verkehrsbetriebe. »Ich fürchte, wir sind nicht sehr kontrovers«, stellte Heidrun Hoffmann-Taufall, Vorsitzende der FU Einbeck und Dassel, fest: Alle hätten ähnliche Grundgedanken über Demokratie.

Aus verschiedenen Gründen setzten sie auf politisches Engagement: Für Heinz Behrends gehören Frömmigkeit und politisches Engagement zusammen. Dr. Sabine Michalek ist über Elternarbeit zur Kommunalpolitik gekommen. »Es braucht Themen, die fesseln«, stellte Professor Harteisen fest. Die Wissenschaft habe dabei eine Verantwortung für die Weiterentwicklung der Gesellschaft, sie weise Wege, um dem Gefühl entgegen zu treten, ländliche Regionen seien abgehängt. Aus der Sport- und Vereinsarbeit kommt Dr. Falk Obermann; was er selbst als Ehrenamtlicher erfahren hat, möchte er zurückgeben und mitgestalten. Aus der christlichen Jugendarbeit rührt das Engagement von Michael Neugebauer. Immer stand für ihn die Gemeinschaft im Vordergrund, in 39-jähriger Mitgliedschaft bei den Grünen, im Sport oder im Beruf.

Werte der Demokratie gelte es zu verteidigen, so Dr. Falk Ostermann, man dürfe das Feld nicht den Vereinfachern überlassen. Frieden, Freiheit und Sicherheit – was man seit Jahrzehnten erreicht habe, werde in Frage gestellt. In einer Vorherrschaft des An-sich-Denkens gehe manchmal der Blick für das Ganze verloren, warnte er. Die Welt sei komplexer geworden, und es werde zu wenig getan, sie zu erklären. Deshalb habe man Menschen an einfache Lösungen verloren.

Das sei falsch und gefährlich. Politik fange direkt vor Ort an. Er hätte vor zehn Jahren nicht gedacht, dass die neue rechte Bewegung die Mitte der Gesellschaft erreichen würde, so Heinz Behrends. Er frage sich, wie in einer Umgebung von Freiheit, Gerechtigkeit, Wahlen und Wohlstand eine solche Situation eintreten könne: »Was wabert darunter?« Verschiedene Verlustängste sorgten dafür, dass sich Ordnungsbeziehungen auflösten. Vieles, was früher gegolten habe, treffe heute nicht mehr zu. Es gebe neue Unsicherheiten, und die Flüchtlingsdebatte habe das verstärkt. Dass eine Million Menschen dabei diffamiert würden, könne man als Christ nicht akzeptieren.

Auf die Potenziale, die in fast jedem Dorf zu heben seien, verwies Professor Harteisen. Der Entleerung des ländlichen Raums müsse man etwas entgegensetzen: »Nichts wirkt besser gegen Ohnmacht als anpacken.«

Bei Angst vor Verlusten und spürbaren Veränderungen müsse man es vielleicht so anpacken, dass man die Menschen für Veränderungen begeistere, so Michael Neugebauer. Einig war die Runde, dass man nicht müde werden dürfe, die Vorzüge der Demokratie aufzuzeigen; sie sei das Allerbeste, was man habe, und es sei wichtig, sie zu unterstützen, auch wenn ihr Gefahr drohe.

Sie beobachte einen großen Sinn der Bürger für das Gemeinwesen, allerdings vor allem im nächsten Umfeld. Bei persönlicher Betroffenheit seien sie bereit, Kraft, Energie und Zeit aufzuwenden. Verlust- und Abstiegsängste ließen sich schon bei der Jugend ausmachen. Die Verdienste der Leistungsträger in der Mitte würden nicht mehr ausreichend wertgeschätzt, so dass die Ränder sich verstärkt hätten.

Die etablierten Parteien erreichten die Menschen nicht mehr so wie früher. Hier seien andere Formate notwendig, vielleicht mit mehr Bürgerversammlungen. Möglichst viele Bürger anzusprechen, funktioniere, wenn man sie neugierig mache, das gelte insbesondere für Jugendliche, die neue Wege gehen wollten .

Politik müsse glaubwürdig sein – bei Fragen wie VW oder Bankenrettung kämen ihm dabei aber Zweifel, so Heinz Behrends. Wenn es Probleme vor Ort gebe, müsse man die auch vor Ort lösen: »Nicht quasseln über Lösungen, sondern lösen.«

Demokratie, das betonte die Bürgermeisterin, sei keine Einbahnstraße; man könne nicht nur gestalten, sondern man müsse es auch tun. Bei lokalen Themen würde sie gern die Bürger stärker in die Verpflichtung nehmen, selbst mitzuwirken. Eine Demokratie sei auch gekennzeichnet durch eine solidarische Ebene.
Die Bedeutung des Lokalen unterstrich auch Professor Harteisen: Früher gab es im Dorf die Unterstützung, die notwendig sei; heute sei man freiwillig füreinander da.

Viele Themen, um die sich Politik kümmern müsse, lägen buchstäblich auf der Straße, etwa Wohnungs- und Bildungsfragen, so Dr. Ostermann. Allerdings hätten sich Problem- und Lösungsebene voneinander getrennt. Hier müsse man ansetzen und überlegen, wie man es schaffe, Prozesse in Gang zu bringen. Regelungen und Strukturen seien nur gut, wenn sie für den Menschen da seien.

Und wie sieht für die Diskussionsteilnehmer der erste Schritt aus, etwas zu tun? Der Jugend die Sprachlosigkeit zu nehmen, das wäre wichtig. Der Erhalt einer freien Presse wurde ebenfalls als wichtiges Demokratie-Merkmal genannt. Demokratie bedeute Beteiligung, auch darum sollte es verstärkt gehen. Sich die Sorgen der anderen anzuhören, sei ein kleiner Beitrag, aber wichtig für den einzelnen. Bewusst Widerstand zulassen, das wäre wichtig, genau wie das Einfordern einer kritischen Auseinandersetzung.

Mit vielen guten Ansätzen, bilanzierte Heidrun Hoffmann-Taufall, könne man Mut haben, dass die Demokratie erhalten bleibe.ek