Sozialstaatliches Erbe der Väter muss verteidigt werden

Jubilarehrung der IG Metall / Henry Kirch: »Auf uns können sich die Menschen verlassen« / Keine Demontage des Sozialstaates

Geehrt wurden jetzt die Jubilare des Jahres 2011 in der IG Metall Süd-Niedersachsen-Harz für 60, 50, 40 und 25 Jahre Mitgliedschaft. Die Ehrungen waren für Henry Kirch, ehemals erster Bevöllmächtigter der IG Metall, Anlass, Danke zu sagen für die langjährige Treue und Verbundenheit zur Gewerkschaft, für ihre Unterstützung und Solidarität und ihr persönliches Engagement. Manfred Zaffke, zweiter Bevöllmächtigter der IG Metall Südniedersachsen-Harz, stellte heraus, dass die Gewerkschaft dafür da sei, den Menschen die Möglichkeit zu geben, ihr Interesse an einem besseren Leben durchzusetzen. Auch er dankte für die langjährige Treue, geehrt wurden Mitglieder aus den Bereichen Metall, Elektro, Textil und Bekleidung, Holz und Kunststoff sowie dem Handwerk.

Einbeck. In seiner Festrede ging Kirch auf das mehr als 100-jährige Ringen der Arbeitnehmer um mehr Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit ein. »Ohne Rückbesinnung gibt es keine Zukunft.« Nach 1945 war der gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Neuaufbau das Gebot der Stunde. »Ein Betrieb - eine Gewerkschaft« war die zündende Parole. 1948 fand die von den Gewerkschaften geforderte Währungsreform statt. Sie wurde ohne Rücksicht auf die soziale Gerechtigkeit vollzogen und sei deshalb eine der radikalsten Enteignungen des letzten Jahrhunderts gewesen. Mit ihr habe die Vermögenskonzentration begonnen, die heute noch das Bild das Gesellschaft bestimme.In der Bundesrepublik Deutschland kämpften die Gewerkschaften um den Sozialstaat. Der IG Metall sei dabei eine wichtige Rolle zugefallen, so Kirch weiter. Die Arbeitnehmer trugen die Kosten einer Marktwirtschaft, die ihre Väter »sozial« nannten. Nicht nur die Währungsreform, sondern auch die Wirtschaftspolitik habe die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher gemacht.

1951, das Jahr, in dem die für 60 Jahre Mitgliedschaft zu ehrenden Kollegen der IG Metall beitraten, war sowohl gewerkschafts- als auch gesellschaftspolitisch eine ereignisreiche Zeit. Der neu gegründete Deutsche Gewerkschaftsbund legte einen Gesetzentwurf zur Neuorientierung der Wirtschaft dem ersten deutschen Bundestag vor. Nur wenige Ereignisse haben in den Jahren nach dem Zusammenbruch die deutsche Öffentlichkeit so bewegt wie der Kampf um die Mitbestimmung in der Montanindustrie, der sich in den Wochen um die Jahreswende 1950/51 dramatisch zuspitzte und fast zu einem Streik führte. Untrennbar verknüpft ist er mit dem Namen Hans Böckler, dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).

In den folgenden Jahren mussten sich die Gewerkschaften gegen reaktionäre Tendenzen zur Wehr setzen. »Obwohl die Gewerkschaftsbewegung sich nicht voll entfalten konnte und nur über ein sehr eingeschränktes Streikrecht verfügte, war sie die stärkste gesellschaftliche Kraft der ersten Nachkriegsjahre.« Die Gewerkschaften arbeiteten intensiv am wirtschaftlichen Wiederaufbau mit, kämpften gegen Hunger und Not und setzten sich gegen Demontage zur Wehr. Aber die echte paritätische Mitbestimmung in allen Wirtschaftsbereichen blieb ihnen versagt. Im Jahre 1961, in dem die für 50-jährige Mitgliedschaft zu Ehrenden der IG Metall beitraten, hat der Gesetzgeber die Novelle zum Lohnfortzahlungsgesetz verabschiedet. Davor - 1956/57 -  konnte der längste Arbeitskampf der IG Metall in der Bundesrepublik Deutschland beendet werden. Es ging bei diesem Streik um die Lohnfortzahlung für Arbeitnehmer im Krankheitsfall.  Wenn ein Arbeiter krank wurde, sanken dessen  Einkommen auf weniger als die Hälfte. Der Streik dauerte insgesamt 16 Wochen, ohne dass die Kampfbereitschaft der Streikenden nachließ. Für die Beschäftigten der Metallindustrie konnte die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall tariflich vereinbart werden.»Es war eine Zeit, in der es rasant bergauf ging«, blickte Kirch zurück. Es begann das Wirtschaftswunder. Das Deutsch-Türkische Anwerbe-Abkommen wurde vereinbart, nachdem Jahre zuvor mit Griechenland, Italien, Spanien und Portugal Anwerbe-Abkommen bereits unterzeichnet waren. Zu erwähnen wäre noch, dass ein Jahr zuvor zwischen der IG Metall und den Metall Arbeitgebern das Homburger Abkommen geschlossen wurde, in dem die stufenweise Einführung der 40-Stundenwoche vereinbart und parallel dazu der tarifliche Anspruch auf Urlaub erheblich ausgedehnt werden konnte.

Das Jahr 1971 war für die Mitglieder, die für 40jährige Organisationszugehörigkeit zur IG Metall geehrt wurden, geprägt von einer internationalen und nationalen Wirtschaftskrise. Die konservative Wirtschaftspolitik führte in der Bundesrepublik zum Rückgang der Konjunktur und zur Arbeitslosigkeit. Sie hatte mit mehr als einer Millionen Arbeitslosen Mitte der 70er Jahre einen vorläufigen traurigen Höhepunkt erreicht und traf die Metallindustrie am härtesten. Auch die hiesige Region war von Beschäftigungseinbrüchen nicht verschont geblieben. Im Zuge dieser bundesweiten konjunkturellen Entwicklung setzte die Bundesregierung ihre lang angekündigten Deregulierungsmaßnahmen im sozial- und wirtschaftspolitischen Bereich um. Arbeitgeberverbände und Bundesregierung wollten das Rad der Geschichte zurückdrehen. Immer lauter forderten sie die Rückkehr zur 48-Stunden-Woche und die Einführung der Samstags- beziehungsweise Sonntagsarbeit. Weiterhin forderte der Bundesverband der deutschen Industrie massive soziale Einschnitte. So sollte die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall reduziert werden. Dieses konnte durch die IG Metall erfolgreich verhindert werden. Weiterhin lehnte die IG Metall jede Form von Arbeitsverlängerungen ab.

Das Bundeskabinett beschloss, weniger Arbeitslosengeld, weniger Sozialhilfe und Unterhaltsgeld für Umschüler, weniger Kin- der- und Erziehungsgeld zu zahlen. Die Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurden gekürzt und Abstriche beim Kurzarbeitergeld und bei der Arbeitslosenhilfe durchgesetzt.

Auf eine 25-jährige Mitgliedschaft kann in diesem Jahr ein großer Teil der Jubilare zurückblicken. 1986, erinnerte Kirch, kam es im ukrainischen Kernkraftwerk in Tschernobyl zu einem schweren Unfall. Der Gewerkschaftstag der IG Metall in Hamburg wählte Franz Steinkühler zum neuen ersten Vorsitzenden. In der Metallindustrie wurde die 38,5-Stunden-Woche eingeführt. Das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz trat im gleichen Jahr in Kraft. Mit der Regierung Kohl begann eine Politik des Sozialabbaus und auch gegen die Gewerkschaften. Die »geistig moralische Wende« wurde eingeläutet. Die CDU/FDP-Regierung änderte trotz massiver Proteste den Streikparagraphen 116 AFG. Gegen den härtesten Widerstand der Arbeitgeberverbände konnte trotzdem im Jahr 1995 die 35-Stunden-Woche durchgesetzt werden.

In den Jahren 1989 und 1990 veränderte sich die gesellschaftliche und politische Lage in Deutschland und Europa radikal. Nach 60 Jahren gabt es wieder eine einheitliche und demokratische Gewerkschaftsbewegung in Deutschland. Die Einheit des Landes muss aber noch sozial gestaltet und mit Leben erfüllt werden. Die Gleichheit der Lebenschancen und die Durchsetzung des Sozialstaatsgebots waren die Ziele gewerkschaftlicher Politik. 2005 kam die große Koalition und mit ihr wurde die Agenda 2010 umgesetzt und damit verbunden der sozialpolitische Kahlschlag verschärft. »Unser sozialer, demokratischer Rechtsstaat wird in der Folge verstärkt durch Politik, Wirtschaft und deren Lobby in Frage gestellt und mit Schwarz/Gelb in Berlin hat sich das noch verschärft«, urteilte Kirch. »Der Kampf um die Zukunft des Sozialstaates ist der Kampf um die Zukunft unserer Gesellschaft«. Eine ausschließlich kapitalistische Gesellschaft ohne soziale Sicherungssysteme gefährde die Demokratie.

Verdiente Mitstreiter ehre man nicht zuletzt dadurch, dass man sich den Aufgaben zuwendet, die heute bewältigt werden müssen. Und heute liege eine vordringliche Aufgabe engagierter Gewerkschaften darin, das sozialstaatliche Erbe der Väter und Mütter zu verteidigen. Denn auch in Zukunft sei und bleibe der Sozialstaat unverzichtbar. In den letzten Jahren habe es permanente Angriffe auf den Sozialstaat gegeben: Existenzielle Risiken würden mehr und mehr auf den Einzelnen abgewälzt. Arbeitslosigkeit werde als individuelle Verweigerung interpretiert. Der Druck zur Arbeitsaufnahme sei durch Kürzung der Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld erhöht worden. Die Steuerpolitik verschärfe die Umverteilung von unten nach oben. Einkommens- und Sozialstandards stünden dadurch massiv unter Druck. Die soziale Abwärtsspirale für Arbeitnehmer müsse gestoppt werden, forderte Kirch. Die Gewerkschaft sei der Anwalt der kleinen Leute und die Gestaltungskraft für Arbeit und soziale Gerechtigkeit. »Auf uns können sich die Arbeitnehmer verlassen.« Er forderte ein faires verlässliches und leistungsfähiges Rentensystem. Der Demontage des Sozialstaates müsse man sich widersetzen - von welcher Partei auch immer sie betrieben werde. »Wir dürfen nicht zulassen, dass die Umverteilung von unten nach oben durch die Bundesregierung fortgesetzt wird.«Insbesondere Menschen, die zu wenig oder überhaupt keine Arbeit haben, für die brauche man eine andere Politik, denn für diese Menschen sei die Krise noch lange nicht vorbei. Seit dem letzten Jahr sei die Zahl der Bedürftigen, die auf Hilfe des Staates angewiesen sind, stetig gestiegen. Und damit sei noch nichts über die Qualität der Arbeit ausgesagt. Leiharbeit und befristete Arbeitsverhältnisse prägten den Arbeitsmarkt. Der Niedriglohnsektor breite sich aus.

Kirch sprach sich aus für eine Bürgerversicherung, die Arbeitgeber müssten wieder zur Finanzierung herangezogen werden. In Bezug auf die Alterssicherung nahm Kirch die Erwerbstätigen-Versicherung in den Blick. Nicht zuletzt brauche man einen arbeitsmarktpolitischen Neustart. Die IG Metall fordert: die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, die Anhebung der Regelsätze für Hartz IV-Bezieher, Zumutbarkeitsregelungen, die vor Lohndumping schützen, und nicht zuletzt müsse gelten: gleiche Arbeit, gleiche Behandlung, gleiches Geld. Die Leiharbeit dürfe nicht dazu missbraucht werden, Löhne zu drücken. »Wer arbeitet muss von dem Geld, was er bekommt, auch leben können.« Und gemeinsam werde man das schaffen können, war sich Kirch sicher.sts