Tiedexer Straße war früher die Magistrale

Tidexen um 900 erwähnt | Häuser wurden zwischen 1541 und 1545 erbaut

Das Foto zeigt einen Blick in die Tiedexer Straße.

Einbeck. Die Nordostseite der Tiedexer Straße ist die längste komplett erhaltene Häuserzeile aus dem 16. Jahrhundert. Heute ist die Straße mit den vielen Zierschnitzereien und Hausinschriften das bedeutendste Denkmalensemble der Stadt. Die Einbecker Altstadt besitzt Hunderte von Fachwerkhäusern aus dem 16. Jahrhundert. Die ältesten von ihnen befinden sich in der Tiedexer Straße. In einer rund 250 Meter langen geschlossenen Zeile stehen die Häuser Nr. 4 bis 46. Sie wurden ab 1541 in der »spätgotischen Fachwerkbauweise« errichtet und stellen eine der bekanntesten Einbecker Sehenswürdigkeiten dar.
Es sind gleichzeitig die ältesten, aber wegen der über die ganze Straßenlänge verteilten Fächerrosetten auch die »modernsten« Häuser der Stadt. Die Schmuckform der Fächerrosette kam erst kurz bevor die Häuser gebaut wurden in Mode und avancierte zum am weitesten verbreiteten Ornament der Weser-Renaissance.

Die Fachwerkschnitzereien waren damals der »letzte Schrei«. Ursprünglich entstammt die Fächerrosette der Steinarchitektur und geht auf das bekannte Muschelmotiv der Renaissance, beziehungsweise auf die Palmette der Romanik zurück. Das Motiv trat zuerst in den 1530er Jahren im östlichen Niedersachsen auf und verbreitete sich schnell. Möglich wurde diese Schnitzform, weil die Winkelstreben mit den Fachwerkständern ein geschlossenes Dreieck bildeten, auf deren Holzfläche die dekorative Ausschmückung vorgenommen werden konnte.

Benannt ist die Tiedexer Straße nach dem wüst gewordenen Dorf Tidexen. Der uralte Ort (erstmals erwähnt um das Jahr 900) hatte im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Schreibweisen, wie »Tidessen« »Thiddegeshus«, »Tyddegessen« »Tydekenhusen« »Thedekenhusen« und »Tidegise«. Das Dorf zwischen lag der Krummen-Wasser-Mühle und dem Johannis-Brunnen.

Im Jahr 1238 wird ein Dietrich von Tidexen als Zeuge in einer Urkunde des Herzogs Otto von Braunschweig erwähnt. Ritter Dietrich war auch dabei, als 1252 in einer Urkunde erstmalig ein Einbecker Stadtrat genannt wird.

Die umliegenden Dörfer hatten im Gegensatz zur Stadt keine Befestigungsanlagen. Die Zeiten waren unsicher. Überfälle waren fast an der Tagesordnung – ob es sich dabei um klassische Räuberbanden, Raubritter oder Kriegszüge benachbarter Herzöge handelte, konnte den Bewohnern egal sein. Am Ende war immer das Dorf geplündert, in schlimmen Fällen steckten die Angreifer auch noch die Bauernhäuser in Brand.

So kam es in der Stadt Einbeck am Ende des 13. Jahrhunderts zu einer starken Zuwanderung. Tidexen war eines der größeren Dörfer in der Umgebung und lag sehr nah an der jungen Stadt. Immer mehr Tidexer zogen nach Einbeck. Tagsüber bewirtschafteten sie ihre Felder und Äcker rund um Tidexen und abends kehrten sie in die sicheren Mauern der Stadt zurück. Nach und nach zogen sie endgültig in die Stadt. Das Dorf Tidexen wurde aufgegeben und verlassen.

Jahrhunderte lang war die Tiedexer Straße die Einbecker Hauptstraße. Der gesamte Verkehr kam hier durch die Stadt – und wenn hoher Besuch angesagt war, dann ritten gräfliche und fürstliche Reisegesellschaften durch die Straße und stiegen dort in den Patrizierhäusern ab. Noch heute sind die Wappen an den Fachwerkhäusern zu sehen. Hier hatten unter anderem die Familien von Einem, Raven, Rodemeyer, Hencken, Ernst und Elligsen ihre Häuser gebaut.

Dem Besucher, der vor 400 Jahren durch das Tiedexer Tor ritt, bot sich ge­nauso wie den Touristen der Gegenwart (diese allerdings in der Regel zu Fuß) ein beeindruckender Anblick. Rechts und links erheben sich die prachtvollen Fachwerkhäuser. Jedes Haus ist über und über mit Fachwerkschnitzereien bedeckt.

Die Gebäude zeigen verschiedene Fächerrosetten an den Schwellen zum zweiten Obergeschoss. An den Fassaden befinden sich Gardinen- und Vorhangbögen, Taubänder, Seilbänder, Hohlkehlen, Laubstäbe und Schiffskehlen mit Perlbändern. Die Vielfalt der Schnitzereien wird ergänzt durch Neidköpfe, Inschriften und ornamentierte Bänder der Spätrenaissance mit phantastischen Figuren und Monster-Darstellungen. Und natürlich die Torbögen – jeder von ihnen unterschiedlich groß und unterschiedlich gestaltet. So scheint es. Denn wenn man genau hinsieht, fällt auf, dass es sich um »Baumarktware« handelt. Die kunstvollen Schnitzereien an den Torbögen variieren zwar, aber die Grundmuster sind immer gleich. Individuell sind nur die Anordnung und Größe. Die Tiedexer Straße ist damals wie heute die Visitenkarte der Stadt auf dem Weg zum Marktplatz.

Sowohl die einfachen Reisenden, als auch die hohen Herren kamen durch das Stadttor in die Tiedexer Straße – ob Herzog Erich oder der Markthändler Lambrecht - die Magistrale beindruckte sie alle. Die Straße war gepflastert und das war funktionell. Andere Straßen waren schlechter dran. Sie wurden bei Regenwetter zu Matschpfützen, die man nur mit Trippen überqueren konnte. Die Tiedexer Straße war und ist das Aushängeschild der Stadt. Sie trägt in der heutigen Zeit kein Kopfsteinpflaster mehr, sondern ist asphaltiert und an beiden Seiten mit einem Bürgersteig versehen.

Das tut dem Gesamteindruck aber keinen Abbruch – im Gegenteil, die Schönheit der Häuser wird eher noch betont. Dass das so bleibt, dafür war und ist den jeweiligen Hausbesitzern zu danken. Seit bald 500 Jahren kümmern sie sich um die Gebäude – die Besitzer haben im Laufe der Zeit gewechselt, die Verantwortung für die Fachwerkhäuser ist geblieben. Auch wenn nicht jedes Haus einen neuen Farbanstrich hat, wenn die entsprechende Summe erst einmal angespart ist, erstrahlt die Fassade bald wieder in neuem Glanz.wk