Verantwortlichen von damals den Triumph nehmen

Gedenkfeier zum 9. November 1938 | Bürgermeisterin: Erinnern und Zeichen für starke Demokratie setzen

Eine große Zahl von Teilnehmern war zur abendlichen Gedenkfeier am Mahnmal für die während der Pogromnacht 1938 angezündete Synagoge in die Bismarckstraße gekommen.

Einbeck. Vor 80 Jahren haben in Deutschland die Synagogen gebrannt – auch in Einbeck. Am Mahnmal für die frühere Synagoge in der Bismarckstraße hat am Freitagabend die Gedenkfeier zum 9. November 1938 stattgefunden. Bürgermeisterin Dr. Sabine Michalek rief in ihrer Ansprache dazu auf, das Gedenken zu pflegen, das mehr sei als die Erinnerung. Sie mahnte, einzustehen für Würde, Recht und Menschlichkeit und sich schleichenden Veränderungen entgegenzusetzen, um so Verantwortung für die Zukunft, für Freiheit und eine starke Demokratie zu übernehmen. Alle seien gefordert, immer wieder deutliche Zeichen gegen Gleichgültigkeit zu setzen.

Die Bürgermeisterin legte in der Feierstunde einen Kranz am Mahnmal für die Synagoge nieder. Vor sehr zahlreichen Teilnehmern, die den Platz mit Kerzen erleuchteten, stellte sie fest, der 9. November stehe für Licht und Schatten, er sei, so habe Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das an diesem Vormittag gesagt, ein »Schicksalstag der Deutschen«. Dies sei das Datum, an dem vor 100 Jahren der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Berliner Reichstagsgebäude aus die erste deutsche Republik ausgerufen habe, es sei aber auch das Datum eines der dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte, der Pogrome, die die Nationalsozialisten 1938 gegen die Juden organisierten und mit denen die spätere Vernichtung der jüdischen Bevölkerung ihren Anfang nahm. Und schließlich sei am 9. November 1989 die DDR-Grenze eröffnet worden, der Beginn der Vereinigung der beiden deutschen Staaten.

Heute erinnere man sich an die Aktion, bei der Synagogen angezündet, Geschäfte verwüstet und Deutsche jüdischen Glaubens verhaftet und misshandelt wurden. Dabei wurde diese Gewalt über Jahre vorbereitet, mit Hetzparolen in den Zeitungen, dem Ton auf der Straße und menschenverachtendem Verhalten gegenüber Minderheiten. Sie wurden ausgegrenzt und in ihrer Existenz gefährdet. Gleichgültigkeit gegenüber offensichtlichem Unrecht und Angst aufzufallen und selbst Schaden zu nehmen, hätten dazu geführt, dass die wahnsinnigen Pläne Hitlers in Bezug auf die jüdische Mitbürger und andere Minderheiten in die Tat umgesetzt werden konnten, bis hin zu Deportation und Vernichtung in den Konzentrationslagern. Der Holocaust habe sich tief ins Bewusstsein eingegraben.

Gedenken sei ein wichtiges Wort im Alten Testament, fuhr sie fort: Es meine nicht einfach, dass sich jemand an etwas erinnere oder dass er etwas abgespeichert habe. Die Folge davon wäre das Verblassen und Vergessen. Vielmehr meine die hebräische Bibel damit, dass die Erinnerung in der Gegenwart verankert sei und damit Veränderungen möglichen mache. Wenn man gegenüber der zerstörten Synagoge zusammenkomme, gebe man der alttestamentarischen Art des Gedenkens Raum. »Und damit nehmen wir jenen den Triumph, die genau das beabsichtigt hatten: die Erinnerung an jüdische Menschen und an jüdisches Leben in Einbeck zu vergessen.«

Jüdisches Leben in Deutschland sei nach wie vor keine Selbstverständlichkeit, sei es nie gewesen, so die Autorin Deborah Feldman, weil das Leben einer Minderheit das nie sei. Vorurteile und Antisemitismus seien in Jahrzehnten demokratischer Bildung und Erziehung nicht verschwunden. Juden würden auf offener Straße angegriffen, weil sie als Juden erkennbar seien. Jüdische Einrichtungen brauchten seit Jahrzehnten Polizeischutz. Antisemitismus sei nach wie vor weit verbreitet, die offene Gesellschaft mit gleichen Rechten für alle Gruppen werde zunehmend in Frage gestellt – insbesondere von Parteien, die gern und leider nicht erfolglos mit Sündenböcken und Feindbildern argumentierten. »So beginnt in der Mitte unserer Gesellschaft dieser Sinneswandel um sich zu greifen.« »Erinnerung, die pflichtbewusst an Gedenktagen unsere Lippen bewegt, die aber nicht mehr unser Handeln prägt, erstarrt zum Ritual«, so habe es der Bundespräsident formuliert. Deshalb seien alle gefordert, einzustehen für Würde, Recht und Menschlichkeit aller Menschen, wo immer diese in Gefahr seien. Allen müsse diese Freiheit gelten, alle seien gefordert, die im Grundgesetz beschriebene Toleranz dem jeweils anderen zuzugestehen.

Sie sei froh, so Dr. Michalek, dass in Einbeck rund 33.000 Menschen unterschiedlicher Religion, Herkunft und Tradition in einer Gemeinschaft und im gegenseitigen Respekt lebten. Das beruhe auf Werten wie Verständnis, Toleranz und Offenheit. Innere und äußere Freiheit jedes Einzelnen und der Gesellschaft sei verknüpft mit Wohlstand und vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten, getragen vom Zusammenhalt in Europa. In den vergangenen Jahren hätten viele Menschen auf der Flucht hier Unterkunft und vielleicht ein Stück Heimat gefunden. Unzählige Ehrenamtliche zeigten dabei beispielhaftes Engagement.

Man dürfe sich nicht der Illusion hingeben, dass ein bisschen Widerstand und das Schweigen der Mehrheit genug seien, fuhr sie fort, weil es hier »relativ ruhig« scheine, nehmen man vielleicht die schleichenden Veränderungen woanders nur am Rande wahr: wenn eines der wichtigsten Denkmäler Deutschlands, das Holocaust-Denkmal in Berlin, als »Denkmal der Schande« bezeichnet werde, wenn in Chemnitz und anderswo rechtsextreme Demonstranten ungehindert verbotene Abzeichen und Gesten zeigen und Hassparolen brüllen, könnten, wenn in Dessau aus Angst vor Tätlichkeiten Rechts- und Linksextremer ein lange geplantes Punk-Konzert im Bauhaus verlegt werde. Geschichtliche Ereignisse aus der Zeit des Nationalsozialismus würden von Politikern öffentlich relativiert und verharmlost.

Der Blick auf den 9. November lehre, dass alle gefordert seien, immer wieder gegen Gleichgültigkeit deutliche Zeichen zu setzen und Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in jeder Form klar und entschieden entgegenzutreten – nicht irgendwann und irgendwo, sondern hier und jetzt. »Wir alle sind gefordert, dafür zu sorgen, dass Weltoffenheit, Toleranz und die gerechte Verteilung von Ressourcen die Grundlage unseres politischen und individuellen Handelns gegenüber anderen bleiben.« Alle würden Verantwortung für die Zukunft und die Freiheit im Land tragen, für eine starke Demokratie und für ein friedliches, respektvolles und gleichberechtigtes Miteinander aller Bürger.

Die Gedenkfeier wurde von der Bläsergemeinschaft Kuventhal-Einbeck musikalisch umrahmt. Das Bündnis »Einbeck ist bunt« zeigte auf Schildern die Namen ehemaliger jüdischer Mitglieder: »Ich bin ...«; das überparteiliche und konfessionsübergreifende Bündnis unterstützt die Bemühungen um Integration und tritt intoleranten und illegalen Aktivitäten entgegen. Schülerinnen der Integrierten Gesamtschule Einbeck haben ein Gedicht von Konstantin Wecker, aktualisiert und bearbeitet von Werner Behrens vorgetragen: »Sage Nein«.ek